Achtung: Fehler im System
Assistenzsysteme sollten uns das Autofahren erleichtern. Stattdessen erzeugen sie ein Gefühl der Bevormundung und agieren oftmals fehlerhaft. Was läuft da falsch?
Kennen sie diese vertrauenbildende Übung, bei der man sich rücklings fallen lässt und darauf zählt, von einer dahinterstehenden Gruppe sicher aufgefangen zu werden? Nun, mit einem ähnlichen Vertrauensvorschuss setzen wir uns doch auch hinters Lenkrad, darauf vertrauend, sicher von A nach B reisen können. Darauf vertrauend, dass uns die Assistenzsysteme an Bord unserer Autos (für die mitunter ein stattlicher Aufpreis bezahlt wurde) dabei hilfreich zur Seite stehen.
Doch dann stellt sich heraus, dass einige dieser Systeme eine Art Eigenleben führen können, dass sie plötzlich und ungerechtfertigt bremsen, beschleunigen oder einlenken. Und dass auch die Werkstatt diesem Eigenleben oft rat- und hilflos gegenübersteht.
Liebe Hersteller, was glaubt Ihr, wie fühlt sich ein Kunde in so einem Moment?
Wir sagen es Euch mit den Stimmen zahlreicher ÖAMTC-Mitglieder, die solche Momente erlebt und sich in Gesprächen und E-Mails an uns gewandt haben: Sie fühlen sich vom Händlerbetrieb allein gelassen, unsicher, je nach Lesart auch bevormundet, angeschwindelt oder einfach nur enttäuscht.
Damit hier kein falscher Gedanke keimt: Die überwiegende Anzahl an kritischen Reaktionen stammt nicht etwa von Technikverweigerern, sondern von Menschen, die gerne und teilweise auch sehr viel hinter dem Lenkrad sitzen und Neuem absolut aufgeschlossen gegenüberstehen.
Menschen wie beispielsweise Wolfgang Lehrer und Thomas Reiter, die freundlicherweise dazu bereit waren, über ihre Erlebnisse zu berichten und der Unzufriedenheit mit modernen Assistenzsystemen auch ein Gesicht zu geben.
Die Enttäuschten
Lust auf weitere O-Töne und Beispiele?
Bitte sehr:
Wolfgang Napiletzki etwa stört, dass dem Kunden beim Kauf Fehlerfreiheit vorgegaukelt wird: "Dabei muss ich ständig kontrollieren, ob die Assistenzsysteme meines Škoda Karoq alles richtig machen. Ich finde das anstrengender, als ohne sie zu fahren."
Otto Leirer berichtete uns über seinen Škoda Enyaq, dass dieser immer wieder unerwartet scharf bremst oder beschleunigt, weil der Tempomat von fehlerhaften Geschwindigkeitsinfos beeinflusst wird.
Benno Müller beklagt ähnliche Probleme bei seinem Mercedes-Benz GLB: "Diese Fehler führen zu gefährlichen Situationen."
Ähnliches haben übrigens auch wir im Rahmen des Tests der neuen S-Klasse von Mercedes-Benz irritiert miterlebt (hier nachzulesen). Wiederkehrend führte das Zusammenspiel aus automatischer Tempolimit-Übernahme und Abstandstempomat (Active Distance Assist Distronic) zu unerwartet scharfen Bremsmanövern, z.B. von 130 auf 50 km/h, oder spontan einsetzenden Zwischensprints über bestehende Tempolimits hinaus.
Eine Erfahrung, die Robert Marschner an Bord seiner Mercedes E-Klasse so ebenfalls erlebt hat. Diesbezüglicher negativer Höhepunkt: eine ungewollte, vom Auto ausgelöste Notbremsung auf deutscher Autobahn bei 180 km/h. Die Vielzahl an Problemen führte schließlich zu einem Wechsel der Automarke.
Assistenzsysteme sollen uns unterstützen, Entscheidungen oder Handlungen abnehmen dürfen sie uns jedoch nicht.
Friedrich Eppel, ÖAMTC-Experte für automatisierte und vernetzte Mobilität
Da stellt sich natürlich die Frage:
Können uns diese Systeme überhaupt jene Unterstützung und jenen Komfort bieten, den uns die Hersteller versprechen?
Wir meinen: Nein, aktuell ist das im vollen Umfang noch nicht möglich.
Dennoch sollten diese Systeme nicht grundsätzlich verteufelt werden.
Wie sagt der Volksmund so schön? Aller Anfang ist schwer. Für neue Technik, speziell wenn sie so hochkomplex wie jene dieser Assistenzsysteme ist, gilt das ganz besonders. Zu keinem Zeitpunkt jedoch darf der technische Status quo als Ausrede für potenziell gefährliche Fehlfunktionen dienen.
Friedrich Eppel, ÖAMTC-Experte für automatisierte und vernetzte Mobilität, zieht da im Interview (die Langversion findet sich am Ende des Artikels) eine klare Linie: "Assistenzsysteme sollen uns zwar unterstützen, Entscheidungen oder Handlungen abnehmen dürfen sie uns jedoch nicht. Als Lenker/-in sind wir nach wie vor für die Aufgabe des Fahrens verantwortlich. Was aber natürlich ebenso nicht sein darf, ist, dass diese Systeme zusätzlicher Aufmerksamkeit bedürfen. Tun sie das, dann sind sie schlicht und ergreifend schlecht konzipiert."
Was die Hersteller sagen
Wir haben jene Firmen mit den Aussagen unserer Mitglieder konfrontiert, deren Produkte in den zahlreichen Beschwerden unserer Mitglieder am häufigsten vorkamen – Volkswagen und Mercedes-Benz.
Benedikt Griffig, Leiter Technologie-Kommunikation bei VW, zeigt durchaus Verständnis für die Enttäuschung der Kunden, betont aber auch, wie schwierig es ist, eine für beide Seiten passende Balance herzustellen: "Für unsere Entwickler ist die Auslegung eines Assistenzsystems ein permanentes Austarieren zwischen Robustheit und Sensibilität. Manche Szenarien treten leider erst im echten Verkehr auf. Wir gehen allen nach und bewerten diese, um Funktionen kontinuierlich zu verbessern."
Bernhard Bauer, Unternehmenssprecher von Mercedes-Benz Österreich Cars & Vans, verweist ebenso auf ständige Aktualisierungen der Assistenzsysteme, tituliert diese jedoch ganz klar als Hilfsmittel: "Sie entbinden den Fahrer nicht von seiner Verantwortung. Wir glauben an kooperative Assistenzsysteme, aktualisieren sie ständig. Gemeinsam mit dem Fahrer bilden sie ein ideales Team."
Dass wir am Lenkrad beim derzeitigen Stand der Technik die Letztverantwortung haben, ist wichtig und richtig. Das sieht auch der ÖAMTC so. Dass störende oder immer wieder fehlerhafte Systeme deaktiviert werden können, ist gut, darf aber nicht die Universallösung für technische Schwierigkeiten sein.
Schlicht inakzeptabel ist es, wenn die Technik Gefahren erst heraufbeschwört, bevormundend agiert oder ständige Aufmerksamkeit erfordert.
Was der ÖAMTC meint
Aus Sicht des ÖAMTC müssen die Systeme bedienfreundlicher konzipiert und deren Fehlerquote gesenkt werden. Andererseits sollten die Hersteller ihre Händler stärker involvieren.
Denn unsere Mitglieder Wolfgang Lehrer, Robert Marschner und Thomas Reiter berichteten unisono, dass bei der Fahrzeugübergabe die Assistenzsysteme weder erklärt noch praktisch vorgeführt wurden. Wer sein neues Auto in aller Ruhe und Sicherheit kennenlernen, dessen Assistenzsysteme kompetent erklärt bekommen und sie auch gleich ausprobieren will, fährt am besten in ein Fahrtechnik Zentrum des ÖAMTC (Info hier).
Interview mit Friedrich Eppel, ÖAMTC-Experte für automatisierte und vernetzte Mobilität
— Viele unserer Leser bemängeln, dass Fahren mit aktivierten Assistenzsystemen anstrengender sei. Woran liegt das?
Friedrich Eppel: Ein gutes System darf keine zusätzliche Aufmerksamkeit erfordern. Ist das doch der Fall, dann ist es einfach schlecht konzipiert. Grundsätzlich muss man aber bedenken, dass Assistenzsysteme zwar unterstützen sollen, die Letztverantwortung hat aber immer der Fahrer.
— Ab 2022 wird bei neuen Autos ein nicht eingreifender Geschwindigkeitsassistent verpflichtend. Aber gerade die falsche Tempolimiterkennung wird oft kritisiert…
Friedrich Eppel: Es wird eine richtige Erkennungsrate von 90 Prozent gefordert. Das ist viel zu niedrig. Es darf doch nicht sein, dass jedes zehnte Tempolimit dem Fahrer falsch angezeigt wird.
— Was fordert der ÖAMTC im Hinblick auf die neuen Assistenzsysteme?
Friedrich Eppel: Sicherheit erhöhende Systeme sollten in möglichst vielen Fahrzeugen verbaut sein. Jeder Piepser, der zu Recht warnt, kann einen Unfall verhindern. Aber natürlich müssen diese Systeme möglichst gut funktionieren – und das über die gesamte Lebensdauer eines Autos hinweg. Außerdem sollte auch noch nach Jahren eine Reparatur zu akzeptablen Kosten möglich sein.
Ein wichtiger Punkt betrifft die Händler: Der Verkäufer müsste bei der Übergabe eine grundsätzliche Erklärung der neuen Assistenzsysteme geben, speziell dann, wenn von einem vergleichsweise alten Fahrzeug auf einen modernen Neuwagen umgestiegen wird. Deshalb ist auch bei den Fahrtechniktrainings des ÖAMTC die Vorstellung von Fahrerassistenzsystemen ein wichtiger Bestandteil.
— Immer öfter sind Software-Updates "Over the Air" (OTA), also über das Internet, möglich. Kann man so Assistenzsysteme im Nachhinein verbessern?
Friedrich Eppel: Ja, Optimierungen sind so wirklich möglich, bei einigen Herstellern lässt sich das bereits beobachten. Allerdings müssen die Änderungen nachvollziehbar sein. Die Systeme sind ja auch Teil der Typisierung und dürfen sich dadurch nicht grundlegend ändern.
— Wann werden wir uns von vollautonomen Autos chauffieren lassen können?
Friedrich Eppel: Da muss man die verschiedenen Anwendungsfelder unterscheiden. Eine hochgradige Automatisierung wird es zuerst im öffentlichen Verkehr oder im Fernverkehr bei den Lkw geben. Im privaten Bereich jedoch wird das noch länger dauern.
Der Hype von vor ein paar Jahren hat sich jedenfalls gelegt. Man musste in der Forschung und Entwicklung für das autonome Fahren zur Kenntnis nehmen, dass sich mit jeder Problemlösung mehrere neue Problemfelder auftun. Da geht es zum Beispiel nicht nur um das räumliche Erkennen der Umwelt, sondern um viel mehr. Allein die unterschiedlichen Wetterbedingungen sind eine arg komplexe Herausforderung.