Nicht schon wieder...
Assistenzsysteme sollen für mehr Sicherheit sorgen. Viel zu oft sorgen sie aber für Verunsicherung. Plus: Welche neuen Systeme jetzt verpflichtend sind.
Die Anzeigen blinken wie verrückt, es piepst und das Lenkrad vibriert. Robert S. aus Linz hat Angst. Sein Auto ist schon wieder der Ansicht, dass sein Fahrer die Spur nicht korrekt hält, obwohl er die Kurve richtig durchfährt. Der Spurhalteassistent des Fahrzeugs ist aber – wieder einmal – anderer Meinung.
In der Dezember-Ausgabe 2021 hat auto touring mangelhafte Funktionen von Sicherheits-Assistenten thematisiert (Titelstory "Wenn Assistenzsysteme spinnen"). Plötzliche Vollbremsungen, unerwartetes Beschleunigen und grundloses Alarmgepiepse bei modernen Autos nerven immer mehr Fahrzeugbesitzer.
Teilweise führt das "Eigenleben" der Elektronik sogar zu gefährlichen Situationen, statt diese zu vermeiden, wie es eigentlich Sinn und Zweck von Assistenzsystemen sein müsste.
Die Reaktionen auf unsere Titelgeschichte waren enorm. Zahlreiche E-Mails erreichten uns, viele Club-Mitglieder griffen auch zum Telefon und schilderten uns ihre teilweise schlechten Erfahrungen mit den elektronischen "Helferleins" ihrer Autos. Vor allem zwei Sicherheitsassistenten wurden immer wieder genannt und oftmals heftig kritisiert: die Hilfe für das Spurhalten sowie nicht nachvollziehbare und mitunter gefährliche Eingriffe der verschiedenen Notbremsassistenten.
"Je schneller man fährt, desto intensiver und gefährlicher werden die Lenk-Eingriffe des Autos."
Hartmut Weber, Besitzer eines Fiat 500e
Heikler Spurhalteassistent
Ein Spurhalteassistent soll das Fahrzeug auf seinem Fahrstreifen halten, auch wenn der Fahrer/die Fahrerin einmal unaufmerksam sein sollte. Dabei kommt es auch zu Eingriffen des Systems in die Lenkung, die man zwar übersteuern kann. Dennoch sind die Lenkbewegungen des Assistenten oftmals überraschend und heftig – und können dadurch gefährlich sein.
So wie beim Fiat 500e von Hartmut Weber aus der Steiermark. Seine Erlebnisse schildert er uns so: "Der Spurhalteassistent greift plötzlich in die Lenkung ein. Er lenkt. Was bei Straßenmarkierungen, die man überfährt, im ersten Moment sinnvoll erscheint, ist aber eine mitunter lebensgefährliche Angelegenheit. Denn das Fahrzeug lenkt nicht nur zurück, sondern auch spontan voll auf die Gegenfahrbahn!"
Diese Eingriffe erfolgen auch ohne Bodenmarkierungen, beispielsweise bei schmutzigen Straßen oder Spurrillen. "Noch schlimmer: Je schneller man fährt, desto intensiver wird dieser Eingriff." Der Spurhalteassistent ist automatisch nach dem Neustart des Autos aktiv, kann aber mit einer Taste am Lenkrad deaktiviert werden. Hartmut Weber kritisiert, dass man den Assistenten nicht permanent ausschalten kann: "Leider vergisst man zu Fahrtbeginn ab und zu auf den Tastendruck. Meine Frau und ich hatten deswegen schon mehrere Beinahe-Unfälle."
Ohne Not voll gebremst
Funktioniert ein Notbrems-Assistent so, wie er soll, kann er schwere Unfälle vermeiden – vor allem bei den typischen Auffahrunfällen, die aus Unaufmerksamkeit passieren. Reagiert der Fahrer bei einem drohenden Zusammenstoß nicht oder zu spät, leitet das System selbstständig eine Notbremsung ein.
Manchmal reagiert der Assistent aber viel zu sensibel. So wie beim Tesla Model 3 von Erich Eichinger aus Gmunden: "Auf der Autobahn war ich beim Überholen eines Lkw nach Ansicht meines Autos anscheinend zu nahe am Laster dran. Der Bremsassistent machte völlig unerwartet eine Vollbremsung."
Ähnliches schildert uns Max Riffler aus Vorarlberg. Mit einem Seat Alhambra wollte er zwischen einer Verkehrsinsel und einem rechts in einer Haltestelle stehenden Bus durchfahren. "Die Elektronik hat entschieden, dass ich da nicht durchkomme, und eine Vollbremsung hingelegt. Ich konnte überhaupt keinen Einfluss auf die Aktion nehmen", schildert Riffler den Vorfall. Wäre hinter ihm ein anderes Auto nachgefahren, hätte es durch die Notbremsung leicht zu einem Auffahrunfall kommen können.
"Die Anzeige der gerade erlaubten Geschwindigkeit ist in höchstens 50 Prozent der Fälle verlässlich."
Gerald Schönwetter, Besitzer eines BMW X1
Reichlich Ärger bereitet auch die Verkehrszeichenerkennung bei vielen Modellen. Dieser Assistent soll den Fahrer über die gerade geltende Höchstgeschwindigkeit informieren und diese im Cockpit einblenden. Was aber nicht immer korrekt funktioniert – so wie beim BMW X1 von Gerald Schönwetter: "Oft zeigt mir die Geschwindigkeitserkennung im Ortsgebiet fälschlicherweise 70 oder 80 km/h an. Und dann plötzlich nur 10 Stundenkilometer, weil das Auto ein Verkehrsschild auf einer Abzweigung entdeckt hat."
Dass das nicht nur ein Problem bei seinem Auto ist, zeigen Fahrten von Gerald Schönwetter mit einem aktuellen 5er-BMW oder mit einem ganz neuen iX3: "Die zeigen mir genau den gleichen Unsinn an."
Moderne Assistenzsysteme können die Sicherheit erhöhen, bei der Zuverlässigkeit muss aber noch dringend nachgebessert werden.
Günter Rauecker, Redakteur auto touring
Fahrassistenzsysteme im Praxistest
Assistenzsysteme bieten enormes Potenzial, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Um dieses vollständig ausschöpfen zu können, bedarf es umfangreicher Kenntnisse über Funktion und Grenzen der Systeme und deren (richtige) Nutzung. AustriaTech, eine Agentur des Bundes, beschäftigt sich im Rahmen eines Forschungsprojekts im Auftrag des im BMK eingerichteten Österreichischen Verkehrssicherheitsfonds (VSF) mit Verständlichkeit, Bedienung und Anwendung von Fahrassistenzsystemen. Im Rahmen praktischer Tests werden verschiedene Fahrzeugmodelle und Fahrassistenzsysteme im August 2022 auf einer Teststrecke in Sankt Valentin in Niederösterreich genau unter die Lupe genommen: Welche Anforderungen haben Fahrer/-innen an die Bedienung und Nutzung von Assistenzsystemen? Die Ergebnisse sollen in zukünftigen Ausbildungs-, Informations- und Vermittlungskonzepten berücksichtigt werden.
Weitere Infos zu den Praxistests und wie man daran teilnehmen kann unter survey.lamapoll.de/Fahrassistenzsysteme
Verpflichtende Helfer
Nachdem Systeme wie ESP oder eine Reifendruckkontrolle schon seit Jahren in allen neuen Autos eingebaut sein müssen, erfolgt nun ein nächster Schritt der Verpflichtung weiterer Fahrassistenzsysteme in Neuwagen. Folgende Systeme, die es in manchen Autos schon gibt, müssen seit Juli 2022 in allen neu typisierten, ab Juli 2024 in allen Neufahrzeugen vorhanden sein:
Notbremsassistent. Das System erkennt einen möglichen Zusammenstoß und leitet selbstständig eine Notbremsung ein. Auch wenn ein Unfall nicht vermieden werden kann, vermindert es die Schwere eines eventuellen Aufpralls. In diesem ersten Schritt muss das System Hindernisse und fahrende Fahrzeuge erkennen, in einer nächsten Stufe auch Radfahrer und Fußgänger.
Notfall-Spurhalteassistent. Das System hält das Fahrzeug auf seinem Fahrstreifen. Mit einer Kamera oder mit einer Kombination von verschiedenen Sensoren (Kameras, Radar, Infrarot…) wird der Verlauf der Fahrspur erfasst. Spätestens beim Verlassen der Spur greift das System ein und lenkt wieder zurück. Mit entsprechendem Druck am Lenkrad kann der Assistent aber "überstimmt" werden.
Müdigkeitswarner. Bei drohendem Sekundenschlaf, aber auch bei nachlassender Konzentration, etwa durch Ablenkung, erfolgt eine Warnung an den Fahrer. Bei fast allen Systemen werden die Lenkbewegungen analysiert, die bei Müdigkeit oder Ablenkung ein erkennbares Schema aufweisen.
Geschwindigkeitsassistent. Soll den Fahrer unterstützen, die vorgeschriebene Geschwindigkeit einzuhalten, die das Fahrzeug über Kameras oder Navi-Daten erfasst. Bei Überschreiten des Limits muss der Fahrer darauf aufmerksam gemacht werden, etwa durch eine optische Anzeige oder ein pulsierendes Gaspedal. Oder es erfolgt eine automatische Übernahme von Tempolimits, also ein Einbremsen des Fahrers durch die Technik. Beide Systemarten sind ausdrücklich erlaubt.
Notbremslicht. Wird stark abgebremst, signalisiert das Auto mit pulsierenden Bremslichtern oder schnell aufleuchtender Warnblinkanlage die Notbremsung.
Rückfahr-Assistent. Ein Kamerabild oder ein sich verändernder Ton signalisieren bei Rückwärtsfahrt Hindernisse.
Ereignisbezogene Datenaufzeichnung. Ausdrücklich für die Unfallforschung werden Informationen vor, bei und nach einem Aufprall gesammelt. Alle Daten sind anonymisiert zu speichern und dürfen keine Schlüsse auf das konkrete Fahrzeug, den Halter oder Lenker zulassen.
Schnittstelle für Alkohol-Wegfahrsperre. Für den nachträglichen Einbau einer Sperre, die Inbetriebnahme durch alkoholisierten Lenker unterbindet.
Der ÖAMTC kalibriert Systeme
Damit die Assistenzsysteme im Auto Fahrerinnen und Fahrer unterstützen können, müssen sie erst einmal die Umgebung des Fahrzeugs in Echtzeit vermessen und die Ergebnisse simultan an den Bordrechner melden. Der kann dann, wenn es nötig ist, eingreifen und Beschleunigung, Geschwindigkeit, Bremse, Lenkung etc. korrigieren bzw. übernehmen.
Diese Vermessung der Umgebung geschieht durch Kameras, mittels Radar oder Lidar, das ist eine Art dreidimensionales Laserscanning. Die Kameras und Sensoren dafür sitzen hinter der Frontscheibe, am Kühlergrill oder unter den Stoßfängern. Ist das Fahrzeug in einen Unfall verwickelt, können sie zu Schaden kommen.
Es muss aber gar keinen Crash gegeben haben: Auch nach Reparaturen kann es vorkommen, dass sie nicht mehr korrekt funktionieren. ÖAMTC-Techniker Daniel Deimel: "Diese elektronischen Hilfen arbeiten mit einer Vielzahl von Sensoren, deren Lage und Ausrichtung exakt justiert und in den Steuergeräten des Autos programmiert sein müssen. Daher ist besonders nach Unfallreparaturen, aber auch nach jedem anderen Tausch schadhafter Teile – beispielsweise wenn die Windschutzscheibe aufgrund eines Risses ersetzt werden musste – eine neuerliche Kalibrierung essenziell."
Diese Arbeiten werden in Zukunft sogar noch wichtiger, denn ab Juli 2024 schreibt die Europäische Kommission eine Reihe von Systemen für alle neu zugelassenen Fahrzeuge vor, darunter z. B. Notbrems-, Spurhalte- und Müdigkeitsassistenten. Weil Fahrassistenten nur dann Leben retten können, wenn sie einwandfrei funktionieren, bietet der ÖAMTC – zunächst im Pilotbetrieb an den Stützpunkten Wien West, Graz West, Grieskirchen und Dornbirn eine Kalibrierung von Assistenzsystemen an.
Dabei wird von eigens geschulten Techniker/-innen zunächst gecheckt, ob es Schäden gibt, die vor der Kalibrierung behoben werden müssen. Zusätzlich kann eine Vermessung und Einstellung des Fahrwerks notwendig sein. Erst wenn alles andere korrekt funktioniert, wird mit der Kalibrierung per Spezialgerät begonnen. "Der dafür notwendige Zeit- und Arbeitsaufwand variiert von Modell zu Modell teils erheblich", hält Experte Deimel fest.
www.oeamtc.at/pruefdienste