Die Sonder-Klasse
Die neue Mercedes-Benz S-Klasse verschiebt die Grenzen des automobilen Luxus weiter nach oben. Gleichzeitig zeigt ein modernes Assistenz-System im Test gefährliche Schwächen.
S wie Sonderklasse – so bezeichnet Mercedes-Benz seine Top-Limousine seit 1972. Und schafft es, dass sie immer wieder zum Maßstab in der Oberklasse wird. Beeindruckend etwa, wie die aktuelle Generation auch mit einem Leergewicht von über 2,2 Tonnen, verteilt auf rund 5,3 Meter Länge (mit langem Radstand), leichtfüßig die Kurven in Angriff nimmt.
In engen Gassen lässt sich die Größe natürlich nicht verheimlichen, dafür gibt es gegen Aufpreis eine Vierradlenkung, die den Wendekreisdurchmesser um zwei Meter verringert.
Der Sechszylinder-Diesel mit drei Liter Hubraum sorgt für sportliche Fahrleistungen, die Schaltvorgänge der 9-Gang-Automatik erkennt man zumeist nur optisch am Drehzahlmesser. Verbrauch: Auch bei zügiger Fahrweise sind weniger als sieben Liter Diesel für 100 Kilometer ganz einfach möglich. Der bei der Langversion um elf Zentimeter vergrößerte Radstand kommt eins zu eins dem Fußraum in der zweiten Reihe zugute.
Daraus folgt dann eine schwierige Frage: Welcher Platz in der S-Klasse ist der beste – der des Fahrers oder rechts hinten? Fünf verschiedene Fondsitzvarianten stehen zur Verfügung, bis hin zum Liegesitz mit Massagefunktionen und beheizbarem Zusatzkissen auf der Kopfstütze.
Ein Großteil der Bedienung ist in den großen Touchscreen gewandert, bei dem die logische Menüführung auffällt. Wer es nicht so mit dem Tapsen auf einem Bildschirm hat, kann die gut funktionierende Sprachsteuerung (startet mit "Hey Mercedes!") nutzen.
Mit jeder neuen Generation der S-Klasse kommen neue Sicherheitssysteme zum Einsatz: Aktuell sind es etwa Airbags für die Fondpassagiere mit einer speziellen Röhrenstruktur oder beim optionalen aktiven Fahrwerk die Funktion, dass bei einem drohenden Seitencrash durch ein anderes Fahrzeug die Karosserie innerhalb von Zehntelsekunden um acht Zentimeter angehoben wird. Besser ein Aufprall auf die widerstandsfähigeren Strukturen im unteren Teil als in die "weicheren" Türen.
Im zweiten Halbjahr soll ein Fern-Update die Fähigkeit zum hochautomatisierten Fahren (Level 3) bringen. Wir sind gespannt.
Warum? Die Erfahrungen mit den aktuellen Assistenz-Systemen haben uns überrascht. Negativ überrascht.
Fatale Tempo-Ver(w)irrungen
Die Mercedes S-Klasse besitzt die Fähigkeit des teilautomatisierten Fahrens – also der Stufe 2 von insgesamt fünf (Stufe 5 = vollautonomes Fahren). Der Abstandstempomat "Active Distance Assist Distronic" hält nicht nur automatisch den Abstand zu einem vorausfahrenden Auto, sondern bietet auch die Option, Tempolimits automatisch zu übernehmen und einzuhalten. Informationsquellen sind das Kartenmaterial des Navigationssystems sowie die eingebauten Kameras.
Beim Test durch den auto touring zeigte das System gefährliche Fehlfunktionen. Hier nur drei von mehreren Vorfällen:
Fall eins: Auf der Autobahn bremst die S-Klasse vom erlaubten Tempo 130 stark auf Tempo 80 ab, einmal sogar auf Tempo 50. Diese Limits gelten aber nicht für unsere Fahrstrecke, sondern für die danebenliegende Autobahnabzweigung.
Fall zwei: Auf einer Landstraße gilt Tempo 70. Plötzlich beschleunigt der Mercedes auf 100 km/h. An dieser Stelle war bis vor zwei Jahren das Ende des 70er-Limits. Spannend: Bei zwei weiteren Versuchen wird das geltende Limit von 70 km/h eingehalten.
Fall drei: Bei einer Baustelle auf einer Stadtautobahn, auf der normalerweise (und seit jeher) Tempo 80 gilt, erkennt das Fahrzeug die Tempo-30-Beschränkung und verzögert entsprechend. Nach rund 250 Metern, mitten in der Baustelle, stellt der Mercedes den Tempomat auf 100 km/h und beschleunigt entsprechend heftig. Bei einem unaufmerksamen und/oder überraschten Fahrer, der nicht sofort reagiert und bremst, eine ziemlich gefährliche Situation.
Das Video zu den Fehlfunktionen
Die Stellungnahme von Mercedes-Benz Österreich
Natürlich haben wir Mercedes-Benz um Stellungnahme und eine Erklärung gebeten.
Die Antwort von Mag. Bernhard Bauer, Unternehmenssprecher von Mercedes-Benz Österreich Cars & Vans:
"Active Distance Assist Distronic erleichtert das Fahren, indem die Geschwindigkeit automatisch angepasst wird, um langsamer fahrende Fahrzeuge zu berücksichtigen – so müssen Sie nicht weiter zwischen Bremse und Gaspedal wechseln. In Verbindung mit einem der Fahrassistenzpakete und dem Active Parking Assist wird der Active Distance Assist Distronic um weitere Funktionen erweitert.
Active Distance Assist Distronic mit routenbasierter Geschwindigkeitsanpassung passt die Geschwindigkeit an, je nach Dynamic Select-Modus, um anstehende Routenmerkmale wie Kurven, T-Kreuzungen, Kreisverkehre, Mautstellen, Ausfahrten oder Kurven zu berücksichtigen. Das Auto nähert sich dabei dem kommenden Streckenabschnitt im Komfort-, Eco-, oder Dynamikmodus – je nach gewähltem Fahrprogramm. Danach beschleunigt das Fahrzeug wieder auf die eingestellte Geschwindigkeit. Die streckenbasierte Geschwindigkeitsanpassung berücksichtigt keine Vorfahrtsvorschriften; der Fahrer bleibt für die Einhaltung dieser verantwortlich.
Wird an Kreuzungen, in Verzögerungsspuren oder in der angrenzenden Fahrspur der Abbiegewille erkannt, wird die Geschwindigkeit angepasst, sobald die Blinkanzeige aktiviert ist; mit aktiver Routenführung im Navigationssystem kann diese Anpassung automatisch erfolgen. Zudem erkennt der Active Speed Limit Assist Geschwindigkeitsbegrenzungen und passt die Fahrzeuggeschwindigkeit automatisch an. Geschwindigkeitsbegrenzungen, die von der Kamera erkannt oder in der Karte des Navigationssystems gespeichert sind, werden auf dem Kombiinstrument angezeigt und von Active Distance Assist Distronic automatisch als neue Sollgeschwindigkeit übernommen.
Die Fahrassistenz- und Sicherheitssysteme sind Hilfsmittel und entbinden den Fahrer nicht von seiner Verantwortung. Sofern der Fahrer eine aktive Rolle spielt, glauben wir an kooperative Assistenzsysteme. Gemeinsam mit Ihnen am Lenkrad bilden sie ein ideales Team. Daher haben wir das System nach folgenden Richtlinien entworfen:
Die Reaktion des Active Distance Assist Distronic
wird dem Fahrer im Kombiinstrument angezeigt
haptisch wahrgenommen werden
kann vom Fahrer jederzeit storniert werden, durch
– Drücken des Gaspedals
– Wenn nach dem automatischen Geschwindigkeitswechsel innerhalb von 1,5 s gedrückt wird, bleibt das bisherige Tempolimit
– Wenn der Fahrer später gedrückt wird, überschreibt er die eingestellte Geschwindigkeitsbegrenzung, solange das Gaspedal gedrückt wird, wird die neue Sollgeschwindigkeit nach Dem Lösen des Pedals verwendet.
– Ändern der eingestellten Geschwindigkeit mit den Lenkradtasten
– Deaktivierung von Distronic durch Bremsen oder Übersteuerung des Lenkrads
Im Allgemeinen wird die eingestellte Geschwindigkeit für Strecken-Features oder Geschwindigkeitsbegrenzungen mit wenig Dynamik und kleinen Verzögerungswerten angepasst,
Es ist genügend Zeit für den Fahrer zu reagieren
Der Fahrer des folgenden Fahrzeugs ist in der Lage, die Situation jederzeit zu meistern
Wie bereits erwähnt, ist Distronic ein Assistenzsystem, der Fahrer ist immer für die Fahraufgabe und Fahrzeugsteuerung verantwortlich und muss diese Verantwortung zeitnah erfüllen.
Dies wird auch oft in der Bedienungsanleitung behandelt.
Dennoch nehmen wir das Feedback unserer Kunden sehr ernst. Um unsere Systeme weiter zu verbessern, aktualisieren wir unsere Systeme ständig. Sollte es wiederholt zu einem Problem kommen, welches reproduzierbar ist, werden wir den Standort mit einem Fahrzeug mit Messgeräten auf einem unserer anstehenden Testfahrten überprüfen.
Wenn unsere Kunden mit dem Active Speed Limit Assist sehr unzufrieden sind, kann diese Teilfunktion von Distronic in den Assistenzeinstellungen deaktiviert werden.
Dennoch möchten wir betonen, dass dieses System eine Hilfe ist. Daher muss die Verkehrssituation vom Fahrer jederzeit beherrschbar sein und stellt kein Sicherheitsproblem dar."
Fazit
Peter Pisecker, Chefredakteur des auto touring, fasst zusammen: "Die Behauptung von Mercedes, der Active Speed Limit Assist erkenne Geschwindigkeitsbegrenzungen, darf zumindest angezweifelt werden. In unserem Test erkannte er sie eben manchmal nicht – oder falsch. Es stimmt allerdings, dass sämtliche Fehlfunktionen vom Fahrer kontrolliert werden können: Er kann etwa durch einen Tritt aufs Gaspedal eine unerwartete und unerwünschte Bremsung beenden oder umgekehrt das Auto abbremsen, wenn es an unerlaubter Stelle beschleunigt. Der Fahrer hat also stets die Kontrolle, das ist wahr. Die Verantwortung sowieso.
Aber es ist keine Hilfe, sondern im Gegenteil eine zusätzliche Aufgabe für den Fahrer, wenn er das System immer wieder aktiv daran hindern muss, Tempolimits zu überschreiten oder für andere Verkehrsteilnehmer überraschende Bremsmanöver hinzulegen – eine zusätzliche Aufgabe, die eigentlich unnötig sein müsste. Dass es laut Mercedes kein Sicherheitsproblem darstellt, wenn ein Auto auf der Autobahn unvermutet von 130 auf 80 km/h abbremst oder in einem Baustellenbereich plötzlich von 30 auf 100 km/h beschleunigt, ist jedenfalls eine gewagte Aussage."