Microlino: Zurück in die Zukunft

Ein Schweizer Familienunternehmen interpretiert die Isetta neu. Erste Testfahrt im neuen Microlino.

Keine Servolenkung und kein Bremskraftverstärker, kein ABS und kein ESP, dafür ein Design im Isetta-Retrolook und Heckantrieb: Was nach einem "Drivers Car" von gestern klingt, soll die urbane Mobilität von morgen sein. Zumindest, wenn es nach Merlin Ouboter geht.

Der 27-jährige Schweizer sitzt im Besprechungszimmer seines Büros in Küsnacht nahe Zürich. Im Raum nebenan steht ein Tischtennis-Tisch, viele Kabel sind unverlegt. Start-up-Atmosphäre wie aus dem Buche.

Merlin: "Ein Pkw ist durchschnittlich mit 1,2 Personen besetzt und fährt 35 Kilometer weit." Sein Fazit: "Das moderne Auto ist over-engineered." Draußen ziehen Porsche Panamera und Bentley Bentaga durch den wohlhabenden Vorort dieser wohlhabenden Stadt.

Eines Tages dachten sich Merlin und seine Familie, allen voran Bruder Oliver: Das muss doch besser gehen, effizienter. Die Idee des Microlino war (wieder-)geboren. Geld von Investor:innen oder Voranzahlungen von Kund:innen benötigten sie keines: Vater Wim gründete 1996 die Firma Micro Mobility Systems und verdiente mit Produktion und Verkauf von Alu-Tretrollern ein Vermögen.

80.000 Stück pro Tag setzte man davon in Bestzeiten ab, in Großbritannien sind sie Teil des "Inflation Basket". Ein Tretroller aus der Schweiz misst die Inflation in UK.

Das moderne Auto ist over-engineered.

Merlin Ouboter, Co-Founder Microlino

Jetzt aber: ein Auto. Das, wenn alles nach Plan läuft, im zweiten Halbjahr 2023 in Österreich starten wird.

"Endlich", könnte man sagen. Lange genug lief nämlich nicht viel nach Plan: Als auto touring-Chefredakteur Peter Pisecker 2019 einen Prototyp testete, sollte der Microlino noch als Gitterrohrrahmen-Konstruktion mit Starrachse in Deutschland gebaut werden.

Weil der Produktionspartner den Wagen selbst vertreiben wollte, so erzählt es Merlin, kam es zum Rechtsstreit. Der kostete Zeit und Geld, letztendlich einigte man sich außergerichtlich. Wie viel insgesamt schon in den Microlino investiert wurde? Merlin grinst. Familiengeheimnis. Aber ein zweistelliger Millionenbetrag, so viel könne er verraten, sei es schon.

Links: Urbane Mobilität nach den Vorstellungen der Ouboters. Rechts: Ein Kombi, Marke "over-engineered".

Mittlerweile aber läuft deutlich mehr nach Plan. In Turin fand man den passenden Produktionspartner: Karosseriehersteller Cecomp. Betrieben von zwei Brüdern, wie Merlin und Oliver es selbst sind. Cecomp produziert Teile für Sportwagen: Aston Martin, Alpine, sowas in die Richtung.

Und eben: den Microlino. Gebaut wurden bisher rund 700 Stück, täglich kommen zehn neue dazu. Im Juni oder Juli hofft man diese Zahl verdoppeln zu können.

Verändert haben sich aber nicht nur Produktionsstandort und -partner: Statt Gitterrohrrahmen und Starrachse setzt man jetzt, beim Microlino 2.0, auf eine selbsttragende Karosserie und Einzelradaufhängung. Außerdem ist die Spur an der Hinterachse breiter geworden.

In der Theorie müsste sich der Microlino also recht erwachsen fahren. Und in der Praxis? Merlin drückt mir den Schlüssel in die Hand. Los geht's.

Das Spektakel beginnt aber schon vor dem Fahren. Türen an der Seite gibt's keine, wie bei der Isetta aus den 1950er-Jahren erfolgt der Zustieg über die Fahrzeugfront, die riesige Tür zugleich ist. Die Sitzbank ist längsverstellbar, das Lenkrad fix montiert.

Ergonomisch für meine 1,8 Meter (okay, okay: 1,78…) aber ausreichend und für die Fahrt von Rijeka nach Rostock ist er sowieso nicht gedacht. Gestartet wird klassisch via Zündschloss, links vom Fahrenden ist der Wählautomatikhebel als Drehregler platziert.

Zum Gangwählen muss gleichzeitig die Bremse gedrückt werden, und zwar nicht zu sachte. Gleiches gilt dann auch beim Verzögern, man muss beherzt reinsteigen, dann bremst der Microlino aber ordentlich. Bremskraftverstärker gibt es nicht, ABS auch keines, aber das hatten wir ja schon.

auto touring fuhr die "Pioneer Series", von der 999 Exemplare produziert werden. Sie kommt immer mit der mittleren Akkugröße (10,5 kWh), zwei weitere (6 und 14 kWh) stehen darüber hinaus zur Wahl. Die offizielle Reichweite beträgt 177 Kilometer, wir wären hochgerechnet rund 105 Kilometer gekommen. Ladeleistung: 2,6 kW bei den größeren, 1,35 bei der kleinen Batterie. Drei bis vier Stunden dauert die Vollladung.

Dass sich der Microlino lediglich als Zweit- oder Drittwagen eignet und den eigenen Pkw nicht ersetzt, weiß auch Merlin Ouboter. Die Zukunft der individuellen Mobilität sieht er aber ohnehin im Carsharing: Alle haben einen vollelektrischen Kabinenroller, im besten Fall den Microlino und kein Konkurrenzprodukt, und wenn der Urlaub bevorsteht, leiht man sich halt das passende Auto.

Aber jetzt: Der Vorwärtsgang ist drinnen und dann rollt er auch schon los. Was auf den ersten Metern auffällt: Die klassische Ruhe eines Elektroautos vermisst man im Microlino. Stattdessen klingt's hier wie im GT3-Rennwagen, der sich im Pit Limiter durch die Boxengasse schiebt (Video auf unserem Instagram-Kanal). "Das Getriebe", hatte uns Merlin schon vorgewarnt.

Passt aber ganz gut zum gesamten Fahrgefühl, das der Microlino vermittelt. Die Lenkung ist super-direkt, das Lenkrad selbst klein und handlich. Ein wenig erinnert es an das eines Rallyeautos, mit dem vielen Metall und so ganz ohne Knöpfe (und Airbag). Der Microlino klingt nicht nur nach "Drivers Car" von gestern, er fährt sich auch so.

Macht mächtig Spaß, hat aber auch Schattenseiten: Einparken und Rangieren erfordern Kraft.

Stichwort Kraft: Weil die 12,5 kW (17 PS) nur rund 500 Kilogramm antreiben müssen, fließt man auch richtig leichtfüßig durch den Stadtverkehr, der im Microlino von der Spur bis zum SUV immer ein wenig überdimensioniert erscheint. Vorbei ist die Beschleunigung bei 90 km/h.

Ablagefächer gibt's genug im Microlino.

Bedeutet: Um den Microlino zu fahren, muss man einen Führerschein der Klasse B besitzen. Er fällt in die Kategorie L7e, das sind vierrädrige Leichtfahrzeuge mit maximal 15 kW Leistung und einem Gewicht von bis zu 450 Kilogramm exklusive Batterie.

Damit ihn auch 15-Jährige mit AM-Schein fahren dürften, müsste der Microlino in der L6e-Klasse eingestuft werden. Dafür braucht's erstens weniger Power, zweitens weniger Spitzengeschwindigkeit und drittens weniger Gewicht. Punkt eins und zwei sind technisch problemlos umsetzbar, sagt Merlin.

Troubles macht das Gewicht. Es sind zwar nur 25 Kilogramm, die die beiden Kategorien trennen, "aber spar die einmal ein bei einem 500-Kilo-Fahrzeug, das spartanisch ausgestattet ist und dessen Karosserie teilweise eh schon aus Aluminium ist."

Spartanismus hin oder her, ein Feature spendieren die Ouboters ihrem Microlino serienmäßig, für das man selbst in einem BMW 5er oder Audi A8 Aufpreis zahlen muss. "In der Tür steckt viel Technik. Damit man sie nicht zuhauen muss, gibt's Soft-Close-Technologie", erzählt Merlin.

Abgesehen davon aber: recht klassisches Aufpreissystem. Drei Ausstattungslinien und ein paar wenige Extras. Wie viele genau, ist von Land zu Land unterschiedlich. So ist das Premium-Paket (Lautsprecher, dreistufige Heizung, Handyhalterung etc.) in Deutschland serienmäßig, in der Schweiz wiederum nicht.

Und Österreich? "Da halten wir es vermutlich so wie in Deutschland." Fixen Preis für den heimischen Markt gibt es noch keinen, aber er wird sich wohl so um die 20.000 Euro bewegen, je nach Ausstattung und Akkugröße etwas darunter oder darüber.

Eine E-Mobilitäts-Förderung ist übrigens möglich, bei L7e-Fahrzeugen beträgt diese aber "nur" 800 Euro. Wieso dann nicht gleich als klassischen Pkw zulassen, wenn man ohnehin einen B-Schein benötigt? Merlins Antwort: "Dann bräuchte es wieder etliche Assistenzsysteme." Und das wäre fürs Semmerlholen am Sonntag: over-engineered.


 Microlino: Abmessungen und technische Daten


 Länge: 2.519 mm
Breite: 1.473 mm
Höhe: 1.501 mm
Leistung: 12,5 kW (17 PS)
Drehmoment: 89 Nm
Höchstgeschwindigkeit: 90 km/h
Akkukapazität: 6 / 10,5 / 14 kWh
Reichweite: 91 / 177 / 230* km
Gewicht: 596 / 513 / 530 kg
Kofferraumvolumen: 230 l


*vom Hersteller geschätzter Wert