Einsatzbereit
In nur drei Minuten in der Luft – drei Profis der ÖAMTC-Flugrettung erzählen vom täglichen Einsatz für das Leben. Zu Besuch am Stützpunkt Christophorus 4 in Tirol.
Wir sitzen im Bereitschaftsraum. Der Stützpunkt des Christophorus 4, kurz C4, liegt in Reith bei Kitzbühel in Tirol neben einem Bergbauernhof, verschneiten Wiesen und Wäldern und mit atemberaubendem Blick auf den zerklüfteten Wilden Kaiser.
Der C4 ist einer von 18 Standorten der ÖAMTC-Flugrettung in Österreich. In den Bergen Tirols herrscht die höchste Dichte an Notarzthubschrauber-Stützpunkten weltweit.
"Lebensrettung ist Teamarbeit", lautet das wichtigste Credo hier. Wie das funktioniert, erzählen drei langjährige Profis: Flugretter Stefan Pichlsberger, Notarzt Clemens Dengg und Hubschrauberpilot Andreas Berger.
Atmet die Patientin? Ist sie bei Bewusstsein? Blutet sie? Es ist ein strukturierter Fragenkatalog, der vom Disponenten in der Notrufzentrale abgefragt wird und schnell Klarheit schafft. "Aus den Antworten ergibt sich ein Code. Das Prozedere beruhigt den Anrufer und beschleunigt die Entscheidungsfindung, welches Rettungsmittel eingesetzt werden soll: ein Rettungswagen oder doch ein Rettungshubschrauber? Natürlich hat auch der Ort des Geschehens Einfluss", informiert Stefan Pichlsberger. Er ist aktuell der diensthabende Flugretter am Stützpunkt Christophorus 4.
Ein Engel aus Dankbarkeit
Neben uns steht ein Funkgerät. Es zeigt den Status "FreiWache". Die dreiköpfige Mannschaft ist also einsatzbereit. Der Check von Material, Hubschrauber und medizinischen Geräten liegt bereits hinter ihnen.
Wenn es piepst, geht alles extrem schnell. Drei Minuten, und die Gelben Engel sind in der Luft.
Das genutzte Funknetz läuft über Tetrafunk und ist verschlüsselt, wie bei allen Sicherheitsbehörden, informiert Notarzt Clemens Dengg, der in voller Montur da sitzt – inklusive Sitzgurt, falls eine Taubergung mit Seil notwendig werden sollte. Er ist Anästhesist und Intensivmediziner am Sanatorium Kettenbrücke in Innsbruck und freiberuflich regelmäßig im Einsatz für die Flugrettung.
"Die Aufgabe ist faszinierend, verantwortungsvoll und ein Highend-Job für einen Notarzt", sagt er. Alle Ärzte im Einsatz haben eine Notarztausbildung, die meisten sind Anästhesisten oder Unfallchirurgen.
"Es geht häufig um lebensrettende Maßnahmen. Von Schmerzmitteln über Kreislaufstabilisierung bis zur Intubation und Brustraumöffnung ist alles dabei", sagt Dengg. Er zeigt auf ein Regal, wo ein kleiner Engel neben einer ÖAMTC-Hubschrauberminiatur steht. "Diesen Engel hat uns vor zwei Wochen ein Mann aus Dankbarkeit gebracht. Er ist vom Dach gefallen und wir haben ihm das Leben gerettet. Das ist einfach rührend", sagt Dengg.
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
In Tirol ist die Flugrettung von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Einsatz. Im Aufenthaltsraum mit Küche, Sitzgruppe und Couch gibt es auch eine Videowall mit vier Bildschirmen. Stefan Pichlsberger erklärt, was zu sehen ist: Auf dem Schirm rechts unten sieht man grüne ("Frei auf Wache"), graue ("Pause"), rosa ("Unterwegs zum Zielort") und orange ("Unterwegs zum Einsatzort") Balken. Sie zeigen die Aktivitäten aller Flugrettungsstützpunkte. Auf einem anderen sind Bilder einer öffentlichen Webcam zu sehen, die gerade über das Kitzbüheler Horn im Nebel schwenkt.
Die verschneite Stadt Kitzbühel wird von ÖAMTC-eigenen Panomaxkameras übertragen. Diese sind österreichweit platziert, geben Einsatzinfos wieder und zeigen das aktuelle Wetter und denselben Ort bei Sonnenschein und blauem Himmel zur besseren Orientierung. Der letzte Bildschirm zeigt eine Österreichkarte, über die kleine und große Farbkleckse in grün, blau, türkis und lila wandern. Dieser bildet das Live-Wettergeschehen ab.
Der Flugretter ist das "Schweizer Taschenmesser"
Stefan Pichlsberger hat schon als kleiner Bub mit fünf Jahren seinen Berufswunsch geäußert. "In meiner Familie waren alle Bergführer oder Bergretter. Meinen Vater haben sie für Einsätze direkt vor unserem Haus mit dem Hubschrauber abgeholt", erinnert er sich.
Der 37-jährige Tiroler kommt aus dem Zillertal, nahe dem Hintertuxer Gletscher. Die Faszination Fliegen war ein Mitgrund für seine Entscheidung, die Ausbildung zum Flugretter zu machen.
Ein Flugretter muss topfit sein, braucht eine alpine Ausbildung, medizinisches Wissen als Notfallsanitäter und technisches Know-how, denn der Flugretter ist auch Co-Pilot. "Ich verbaue dem Piloten die Sicht nach links", scherzt Pichlsberger. Der Flugretter sei das "Schweizer Taschenmesser", ergänzt er. Stefan assistiert dem Piloten und dem Notarzt. Zielorientiert hat sich der Tiroler seinen Traum mit 21 Jahren erfüllt, als jüngster Flugretter des Landes.
"Der Andi kennt mich seit ich noch grün hinter den Ohren war", nickt Pichlsberger Richtung Andreas Berger. Der Pilot nickt zustimmend. Er ist die Ruhe in Person, sofern man alle Regeln einhält, denn er sorgt für die Sicherheit, wie er gern und oft betont – und da nimmt er es genau. Als wir uns das erste Mal mit dem Auto einparken, stürmt er aus dem Haus und baut sich mit seinen 1,90 vor uns auf: "Das ist zu nah am Flugquadrat. Dort hinten kannst stehenbleiben, dort sind Parkplätze." Wir folgen schuldbewusst.
"Ready for take off"
Als wir uns später ins Cockpit setzen, erhalte ich eine so umfassende Einschulung, dass ich mich zumindest theoretisch fliegertauglich fühle. Der Parahöhenmesser ist der künstliche Horizont zur Fluglagedarstellung. Der Kurskreisel ist der Kompass. Der Vertical Speed Indicator zeigt, ob der Hubschrauber steigt oder sinkt. Dann gibt es die Flugladeüberwachung, einen Transponder, den Airspeed Indicator, den Batterie Master Switch und natürlich den Triebwerkhauptschalter, sprich Startknopf, und den Leistungshebel, ist gleich "Gaspedal". Nach 20.000 Flügen, 42.000 Landungen, 8.000 Flugstunden und 7.000 Rettungseinsätzen kennt man sich eben aus. Schon fühle sogar ich mich "ready for take off".
"Der Hubschrauber war immer meins": Auch Andreas Berger hat seinen Traumberuf früh gefunden und seine Ausbildung beim Bundesheer absolviert. "Ich schnalle mir das Gerät um und bewege mich dreidimensional durch den Raum, wie mit einem Rucksack. Der Hubschrauber kann sich in alle Richtungen bewegen, schweben, superschnell fliegen. Ich kann ihn um die Hochachse rotieren lassen und im Grunde braucht es keinen Flugplatz. Das ist einzigartig", gerät der Pilot ins Schwärmen.
1.033 Einsatzflüge im Jahr 2022
Fliegerisches Können ist hier gefragt. "Siehst du den Wilden Kaiser? Das sind schroffe Felshänge, eine Landung ist oft unmöglich, wenn ein Bergsteiger in der Wand hängt", erzählt Berger und zeigt auf die grau-weißen Zacken in der Ferne, die dem Herzschlag auf einem EKG ähneln.
Rund 40 Prozent der 1.033 Einsatzflüge des C4 in Tirol waren 2022 Folge von Sport- oder Freizeitaktivitäten im Gebirge. Berger erklärt die detaillierten Eintragungen im Kalender vor uns. Die meisten Einsätze werden im Frühling geflogen und während der Hauptferienzeiten. Während im August 110 Einsätze gezählt wurden, waren es im November nur 26. Taubergungen werden extra markiert.
Die Stecknadel im Heuhaufen
In diesen Hängen sind Landeplätze Mangelware und Taubergungen mit langen Seilen üblich. Dafür muss der Pilot auf abschüssigen Almen zwischenlanden und den Abstand zu den Felshängen genau abschätzen. Schließlich hat der Hubschrauber einen Rotordurchmesser von zehn Metern, das Fluggerät ist zwölf Meter lang und drei Meter hoch. In Windeseile wird ein Tau in der richtigen Länge vorbereitet und in kürzester Zeit hängen Notarzt, Flugretter, Bergesack und die medizinische Ausrüstung mit Karabinern unter der Kabine und werden zur Unfallstelle geflogen.
Die Bergetechnik ist die Kernkompetenz des Flugretters. Alles findet wie im Flug statt – Schnelligkeit und Erfahrung zählen. Es ist ein verantwortungsvoller und teurer Job, den die drei Männer ausüben. Die Bergung bei einem Freitzeit-Alpinunfall kann Tausende Euro kosten, die der ÖAMTC-Schutzbrief bis zu 10.000 Euro abdeckt.
Die größte Herausforderung steht dann oft erst bevor, die Suche nach verletzten Menschen. "Wenn wir keinen genauen Standort wissen, ist das wie die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen", sagt Pichlsberger. "Die Verletzten sehen den Hubschrauber und glauben, alles ist gut", seufzt Dengg.
Klar, der Hubschrauber ist von unten sichtbar und hörbar. Aber ein Mensch in einem grauen Steinmeer, womöglich mit schwarzer Kleidung, ist nahezu unsichtbar.
Drei potenziell lebensrettende Tipps: Apps mit GPS-Tracking nutzen, leuchtende Kleidung tragen und Rettungsdecke einpacken. "Erinnert ihr euch an den Verletzten in den Leoganger Steinbergen? Ohne das Glitzern der gold-silbernen Rettungsdecke, die er geschwenkt hat, würden wir ihn heute noch suchen", glaubt Berger.
Lebensrettung ist Teamarbeit
Für eine sichere Rettungsaktion ist die Wettersituation ausschlaggebend, die der Pilot im Blick haben muss. Andreas fliegt manuell und auf Sicht, es gibt keinen Instrumentenflug, keine vorgegebene Flugroute, keinen Autopiloten. Bei der hohen Reisegeschwindigkeit von 230 km/h braucht es optische Anhaltspunkte, um Entfernungen abzuschätzen und die Position zu halten. Dichte Wolken und Nebel machen das Fliegen unmöglich und manchmal lebensgefährlich.
Entscheidungen müssen schnell getroffen werden. "Lebensrettung ist Teamarbeit. Wir verlassen uns zu hundert Prozent aufeinander. Hat einer kein gutes Gefühl, dann wird das beherzigt. Ob eine Entscheidung richtig war, weiß man oft erst viel später", sagt Berger. Die anderen nicken zustimmend. Andreas Berger wird ernst: "Ein Helfersyndrom ist bei uns fehl am Platz. Der Wunsch, um jeden Preis zu helfen, kann uns alle das Leben kosten. Sicherheit geht vor", sagt er. Es gibt regelmäßige Teambuilding-Tage und, damit es gut funktioniert, häufige Crew-Wechsel. "Das ist gut so", lachen die drei. Die gute Zusammenarbeit ist entscheidend.
Wenn der Tod anklopft
Es kommt schon vor, dass man nicht nach Hause kommt. "Einmal haben wir im Ingolstädter Haus im Steinernen Meer übernachtet", sagt Berger zu Dengg. Bei Regenwetter und Nebel wurde der Notarzt abgesetzt, der einen Patienten mit Herzinfarkt intubierte und im Bergesack über einen Hochgebirgsweg zur Hütte schleppte. Berger fand einen Landeplatz, kurz bevor ihm der Nebel die letzte Sicht nahm, und schaffte es in die warme Hütte. "Das war das Worst-Case-Szenario – aber es ist gut gegangen", meint er heute.
Und wie geht man mit den menschlich herausfordernden Momenten um? Was, wenn der Tod anklopft?
"Der Tod gehört zum Leben", erklären die drei Männer. Sie wissen, wovon sie sprechen, das kann man spüren. Dengg blick zu dem Engel am Regal. Pichlsberger erzählt: "Heuer gab es einen Einsatz, da sind zwei Jugendliche verstorben, zwei Tage drauf gab es eine Tote in Hintertux, vier Tage später starb ein vierjähriges Kind am Berg. Das sind Tage, da will man nicht mehr."
Aber sie hätten in all diesen Fällen nichts mehr tun können, "es war wohl Schicksal". Man müsse sich abgrenzen und ja, es gäbe Psychologen, "und wir sprechen viel miteinander", sagt Dengg. "Wir verstehen einander, wissen was passiert ist, haben es hautnah erlebt", sagt Berger nachdenklich, "doch man muss nach vorne blicken."
Im Einsatz
Es ist 10:24 Uhr. Plötzlich piepst das Funkgerät. Ich erschrecke, die drei Männer aber werden ruhig. Sie sind sofort in ihrer Routine. Ein kurzes Gespräch, es wird gefunkt, Details werden geklärt. Innerhalb von Sekunden sind alle angezogen – Sitzgurt, Jacke, Helm, Brille. Schritt für Schritt laufen Prozesse ab. Eingeübt, selbstverständlich. Zwei Minuten sind vergangen, Notarzt und Pilot sitzen im Hubschrauber. Der Rotor dreht sich schneller. Der Flugretter umrundet die Maschine und hebt den Daumen.
Sturmböen und eisiger Schnee blasen in mein Gesicht. Der Orkan mit hundert km/h, den die Rotorblätter des Hubschraubers erzeugen, verweht alles im Umkreis: Sand, Staub, den Schnee – und mich. Auf die Umgebung und lose Gegenstände muss auch geachtet werden. Aber am C4 besteht keine Gefahr, nur das friedliche Weiß wird zum Schneesturm. Dengg winkt aus dem Cockpit. Kurz darauf ist die riesige brummende Biene in der Luft und wir Menschen auf der Erde schrumpfen zu kleinen schwarzen Punkten in der Winterlandschaft. Sekunden später taucht der gelbe Engel hinter einen Hügel und ist verschwunden – auf dem Weg, ein fragiles Menschenleben zu retten. Am C4 ist es still geworden.