Blind Date am Berg
Der blinde Osttiroler Andy Holzer verbringt an die 200 Tage im Jahr in den Bergen. Im Exklusiv-Gespräch spricht er über seine Sinne, seine Bilder, seine Farben und die philosophische Dimension in seinem Leben.
Ausgesetzt wie ein Adlerhorst thront die Dolomitenhütte oberhalb von Tristach in Osttirol auf einem Felsen. Der Rundumblick auf die Berge: spektakulär, schroff, wild. Wild wie das kaum zu bändigende, blonde lange Haar von Andy. "Nicht Andreas, Andy, so kennt mich die Welt." Andy Holzer ist ein "Blind Climber". Blind hat er die höchsten Berge aller Kontinente bestiegen. Seine Hand auf meiner Schulter führe ich den Weltenbummler durch die Gaststube, vorbei am heimeligen Kachelofen raus auf die Terrasse. Punktgenau zeigt er auf den beherrschenden Felsturm, den Spitzkofel. Sein erster Gipfel als Kind, wie er sagt. Sehen kann er ihn nicht, nicht so wie ich. Aber er war oben, ich kann das nicht.
Begegnung am Berg
— 'Den Sehenden die Augen öffnen!' ist ein Zitat von dir. Was siehst du als Blinder, was wir Sehenden nicht sehen können?
Andy Holzer: Es soll keine überhebliche Ansage eines spinnenden Blinden sein, wie vielleicht viele meinen. Eher ein Gedanke mit Tiefgang. Ich sehe mich nämlich nicht als den Blinden. Als ich vor sechs Jahren als zweiter blinder Mensch auf dem Gipfel des Mount Everest angekommen bin, war das nicht so, dass ich da als Blinder mit zwei Helfern raufgestiegen bin, sondern wir waren gleichberechtigt zu dritt unterwegs. Dort oben habe ich verstanden, dass den Sehenden die Augen öffnen stimmt. Die Mission war den ersten blinden Menschen über die Nordroute auf den höchsten Punkt der Welt zu bringen. Für so ein Unterfangen braucht es Experten: für Wetterkunde, Lawinenkunde, Biwak-Aufbau, Eis- und Seiltechnik, plus jede Menge Logistik.
Und es braucht auch einen Experten, der seinen lichtlosen Körper durch die Landschaft manövriert, und der war ich. Meine Begleiter konnten mir vielleicht sagen, wo eine Gletscherspalte ist, aber nicht, wie ich da rüberkomme.
— Aber was meinst du dann?
Andy Holzer:Wenn ich sage 'den Sehenden die Augen öffnen', dann meine ich, dass wir von Geburt an unglaublich viele Ressourcen unter der Schädeldecke haben, die wir großteils nie nutzen. Sprich, was helfen dir die Augen, wenn du nichts oder nur wenig spürst, hörst, einfach blind durch die Welt gehst.
— Eckst du damit nicht an?
Andy Holzer: Doch. Ich bin einer, der polarisiert. Bin weit weg von Rahmenbedingungen und passe kaum in ein Weltbild. Wer sich auf den Grat raus wagt, wird immer Wind spüren, von allen Seiten. Ich sag auf meinen Vorträgen immer: 'Vergiss Voraussetzungen'. Oft erkennen wir bis zum Lebensende nicht, welche Voraussetzungen wir wirklich haben. Deine Voraussetzungen zeigen sich erst, wenn du richtig gefordert wirst. Etwa, wenn auf 7.000 Metern der Sturm dein Zelt fast wegbläst. Da entsteht plötzlich eine völlig neue Kreativität und somit Voraussetzung. Wer ständig nach Rahmenbedingungen und Voraussetzungen lebt, ist meiner Meinung nach blind.
Bloß, weil du etwas nicht siehst, heißt das nicht, dass es nicht da ist.
Andy Holzer, blinder Bergsteiger
— Aber wie funktioniert das am Berg mit deinen Kletter-Partnern?
Andy Holzer: Partnerschaft besteht immer aus gepflegter Abhängigkeit. Ich habe mich heute an deiner Schulter angehalten und wir waren sofort Partner. Im gegenseitigen Bewusstsein: Ich mach, was du nicht kannst und umgekehrt. Viele glauben, dass ich besonders ausgebildete Begleiter brauche. Es ist ganz simpel. Ich sehe mich als offenes System, das mit jedem, auch mit dir, ein Abenteuer bestreiten kann.
— Aber wer führt dann bei dem Abenteuer?
Andy Holzer: Die Führung muss dynamisch sein, d.h.: Ich muss meine Führungskraft führen, damit sie mich führen kann. Und mein Partner am Everest war vielleicht de facto mein Führer, aber er wusste vorher nicht, was ich in einer Höhe von 8.000 Metern brauchen würde. Daher musste ich ihn vorher aufklären – sprich, führen. Es gab Partner, die haben vor Kletter- oder Schitouren mit mir vor Angst geschwitzt, wie sie mich von der Haustüre unverletzt ins Auto bringen. Ich hab’s erklärt und schon nach 10 Minuten hatten sie vergessen, dass sie mit einem Blinden am Weg sind.
— War das immer so?
Andy Holzer: Vor dreißig Jahren, zurzeit meiner ersten Klettertouren, haben die Leute im Ort gesagt: 'Das ist unverantwortlich, der wird abstürzen, das ist unvermeidlich.' Klar ist es möglich, dass ich abstürze, aber es sind auch schon Sehende abgestürzt. Und die gleichen Leute meinen heute, dass ich wahrscheinlich eh sehen kann.
Ein blinder Junge verschiebt Grenzen
— Wie nimmst du Berge wahr?
Andy Holzer: Auf Berge steige ich nur, um sie sehen zu können. Auf die Berge, die du hier siehst, bin ich von allen möglichen Richtungen raufgestiegen, so konnte ich mir ein 3-D-Bild im Kopf bilden. In unserem Gehirn ist es stockdunkel. Aber es gibt fünf hauchdünne Sinnesnerven, die uns mit der Außenwelt verbinden. Alles wird im Gehirn interpretiert. Da geht es um Formen, Farben, Geschmäcker. Es gibt ja keine Farben in der Realität. Nur Lichtbrechungen, die über einen Botenstoff als Farbe vom Gehirn hinterlegt werden. Ich habe vier dieser Sinnesnerven, also 80 Prozent der Wahrnehmung eines nicht behinderten Menschen. Mein Gehirn fragt nicht von welchem Nerv die Information gerade kommt. Es ringt ständig um Informationen von außen. Da ich von Geburt an blind bin, wurde mein Gehirn für Wahrnehmungen von der ersten Kindesstunde an umgebaut. Das ist wie eine Muttersprache.
Und so hab ich gelernt, meine vier Sinnesnerven so zu gebrauchen, um auch die Areale des Sehnervs auf dem Cortex, der Großhirnrinde, zu füllen. Bilder sind nicht ausschließlich das Resultat des Sehnervs, sondern bestehen aus Informationen aller Sinne plus Vorstellung, plus Wünsche, plus Ängste. Und so funktioniere ich.
— Und wie funktioniert das auf einem ausgesetzten Grat?
Andy Holzer: Auf einem Grat brauche ich einen der vier Sinne, die bei mir funktionieren, der mir Informationen liefert. Da oben geht es für mich nicht um schöne Aussicht. Für mich geht's darum, wo ich hinsteigen soll und wo der Abgrund ist. Wenn der Wind pfeift, habe ich mit dem Hörsinn keine Chance, also konzentriere ich mich auf den Tastsinn. Da greife ich beim Partner auf den Rucksack, der merkt das oft gar nicht. Der Rucksack hängt auf der Schulter, die ist mit der Wirbelsäule verbunden und die wieder über das Kreuzbein mit den Beinen, die am Boden sind. Über die Gegenbewegung des Oberkörpers erkenne ich dann, wo mein Vordermann hin steigt und wie hoch er das Bein hebt. Am Everest gab es kein Reden, meine Freunde haben anhand meiner Körpersprache erkannt, was ich als Nächstes tun würde.
— Gibt es auch noch andere Hilfsmittel zur Orientierung?
Andy Holzer: Ja, wenn ich Seilschaften durch Wände führe, streue ich auf Flachpassagen manchmal Sandkörner, wie ein Bauer die Saat. Und dann höre ich sie aufprallen, manche fallen ins Leere. Diese Geräusche sind wie Pixel und formen ein Bild in mir. Solche Techniken verwende ich unbewusst.
— Wie erlebst du einen Gipfel, wo jeder Sehende den Ausblick genießt?
Andy Holzer: Oft habe ich mich gefragt, warum es mich immer wieder auf die Berge hinauftreibt. Da sind natürlich die Endorphine. Ausschüttungen, die süchtig machen können. Der Berg und die Natur geben mir, anders als die Menschen, die dir auf die Schulter klopfen, wenn du Erfolg hast, ein ehrliches Feedback. Nur wenn ich alles richtig mache, werde ich den Gipfel erreichen. Eine falsch eingeschätzte Komponente und ich werde scheitern oder abstürzen. Das hat mich geschärft, im Denken und in meiner Artikulation. Das gefällt vielen Menschen nicht.
Oft habe ich mich gefragt, warum es mich immer wieder auf die Berge hinauftreibt. Aber Berge geben mir ein ehrliches Feedback, anders als Menschen.
Andy Holzer, blinder Bergsteiger
— Bist du mit der Möglichkeit des Umkommens mit dir im Reinen?
Andy Holzer: Es gibt auch in meinem Bergsteiger-Leben dunkle Seiten, sehr traurige. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn du am Friedhof vor dem offenen Grab eines Seilpartners stehst. Und ein vierjähriger Bub zupft dich am Ärmel und fragt: 'Warum ist mein Papa mit dir am Sonntag klettern gegangen?' Ich wäge ab. Nehme ich das Leben und die Chancen als Herausforderung an, oder konserviere ich mich daheim, sterbe irgendwann mit einer Depression. Irgendwann musst du die Rechnung machen. Was bringt es mir und was nimmt es mir? Im Alltag legen wir das Schicksal oft in andere Hände. Wir vertrauen dem Piloten im Flugzeug oder dem Auto-Mechaniker, der neue Bremsscheiben montiert. Mir ist lieber, wenn ich in einer hohen Felswand den Abgrund und das Risiko spüre, dann gibt es nur noch mich.
— Du bist blind geboren, mitten in den Osttiroler Bergen. Wie schwer war das für deine Eltern?
Andy Holzer: Es gibt auch noch eine ältere Schwester, auch sie ist blind. Bei uns beiden sind, genetisch bedingt, in beiden Augen keine Foto-Rezeptoren vorhanden. Auf eine Digital-Kamera umgemünzt: Es gibt keinen Sensor.
Für unsere Eltern war es das Extremste, was man sich nur vorstellen kann. Sie waren einfache Leute. Der Vater Briefträger, die Mutter Textilverkäuferin. In einem Dorf mit 300 Einwohnern, völlig verzweifelt, allein gelassen. Die Leute aus dem Dorf haben mit Vorwürfen die Traurigkeit noch verstärkt. In dieser Verzweiflung haben sie den Entschluss gefasst, den Kindern ein Leben zu ermöglichen, als ob sie sehend wären.
In dieser Aussichtslosigkeit haben sie Sachen im Positiven zugelassen, die rein rechtlich ein Wahnsinn waren. Die Eltern haben früh verstanden, dass es da noch Dimensionen und Potenziale im Hintergrund gibt. So habe ich mit vier Jahren Ski und später ein Fahrrad bekommen. Unsere Brücken im Dorf hatten damals keine Geländer. Diese ersten 'ungebremsten' Kinderjahre waren die Wurzel dessen, was ich heute bin. Und so lernte ich früh, was Gefahr, Risiko und Geschwindigkeit und Höhe sind. Damit arbeite ich bis heute.
Blind in die Berge
Wenn es finster ist, bin ich vorn, wenn es hell ist, bin ich hinten.
Andy Holzer, blinder Bergsteiger
— Wie sind die Kinder im Dorf mit dir umgegangen?
Andy Holzer: Die Kinder hatten mit mir nie ein Problem. Für sie war ich zwar anders, aber umso spannender. Aber wenn die Kinder daheim erzählt haben: Der Andi ist heute über die Sprungschanze gesprungen oder ist mit dem Radl über den Bach gehupft und brutal gestürzt, dann wurden ihnen diese Dinge gleich verboten. Und so habe ich als Sechsjähriger den Eltern verboten anderen zu sagen, dass ich blind sei. 'Sagt’s einfach, er siecht schlecht!' So habe ich mich barrierefrei gemacht. Denn das Wort blind bedeutete für mich draußen in der Gesellschaft Lähmung.
— Wie bist du in der Schule zurechtgekommen?
Andy Holzer: Ich wollte in keine Blindenschule. Schon als Siebenjähriger hat mich das Leben von sehenden Menschen mehr interessiert als von blinden. Es war ein beinharter Weg. Beim Völkerball in Turnunterricht war ich Kanonenfutter. Wurde immer sofort abgeschossen, den Ball habe ich nicht kommen sehen. Aber beim Seilklettern war ich immer der Erste, der ausgewählt wurde. So musste ich früh lernen, dass du im Leben einmal vorn und dann wieder hinten bist. Wenn es finster ist, bin ich vorn, wenn es hell ist, bin ich hinten.
Mich kümmert es nicht, wenn das Licht ausgeht. Einmal in einer Berghütte in Japan ist das Licht ausgefallen und ich habe in völliger Dunkelheit allen Bergsteigern ihr Zeug gebracht. Wenn es finster ist, bin ich vorn, wenn es hell ist, bin ich hinten.
— Wie ging deine Ausbildung weiter?
Andy Holzer: Grundschule fertig gemacht. Der Schuldirektor wollte mich vom Englisch-Unterricht befreien, mir wäre das recht gewesen, aber meine Eltern waren dagegen. Mittlerweile bin ich froh darüber. Denn heute, 40 Jahre später, mache ich 80 Prozent meines Geschäfts in englischer Sprache.
Als ich 14 Jahre alt war, kam der Berufsberater in die Schule. Der hatte für mich überhaupt keine Idee. Korbflechter oder Bürstenbinder waren seine Empfehlungen. Oder Invalidenrente.
— … und für welchen Beruf hast du dich dann entschieden?
Andy Holzer: Mein Vater hatte die Idee Physiotherapeut oder Masseur. Damals, Ende der 1970er-Jahre, wussten die Leut' nicht einmal, wie man Masseur schreibt (lacht). 26 Jahre stand ich in der Massage-Kabine im Krankenhaus von Lienz. Keine Aussicht auf Veränderung. Aber ich hatte Menschen aus allen Schichten auf dem Tisch. Die haben sich alle mir gegenüber geöffnet. So entwickelte ich unglaublich viel Wissen und Gespür für Menschen, und so entstand meine heutige Lebensphilosophie.
Der Weg in die Welt
Mir hat der liebe Gott so viele Talente mitgegeben, er hat mich quasi überbestückt. Nur die Augen hat er halt vergessen.
Andy Holzer, blinder Bergsteiger
— Und wann kam die große Veränderung?
ANDY HOLZER:2010, im Alter von 43 Jahren wurde es mir dann doch zu eng. Obwohl ich pragmatisiert war, spürte ich, dass es da noch etwas geben muss, draußen in der Welt. Ich hatte natürlich noch keine Ahnung, dass ich einmal Keynote-Speaker werden würde. Heute bin ich selbstständig, spreche vor Mitarbeitern der größten Konzerne der Welt. Ich sehe das nicht als Arbeit, ich mach das spielerisch. Da bin ich am stärksten.
— Man hört, du seist ein Multitalent, ist das so?
ANDY HOLZER:Ich hab so viele Hobbys, vom Funkamateur bis hin zum Musiker. Vor Schülern durfte ich unlängst wieder mit der Gitarre spielen. Mir fehlt zwar ein Finger durch einen Arbeits-Unfall im Garten, aber wieder Musik zu machen, das war reine Magie. Mir hat der liebe Gott so viele Talente mitgegeben, er hat mich quasi überbestückt. Nur die Augen hat er halt vergessen.
— Mittlerweile bist du weit gereist, hast die Seven Summits, die höchsten Berge aller Kontinente, bestiegen.
ANDY HOLZER:Die Seven Summits sind ein Marketing-Gag des Amerikaners Dick Bass, Reinhold Messner war der Zweite. Ich bin erst am Aconcagua in Südamerika draufgekommen, dass es das überhaupt gibt. Eine Zeitung hat geschrieben: 'Andy Holzer hat bereits vier der Seven Summits bestiegen.' Und weil es ein Geschäft ist, haben die Länder die Infrastruktur bei diesen Bergen bestmöglich ausgebaut. Für mich als Blinder war klar, dass ich mir dort am leichtesten tun würde. Ich wollte auch nie eins draufsetzen, etwa den Everest ohne Sauerstoff zu besteigen. Ich bin kein Leistungsmensch und möchte auch nicht leistungsmäßig verglichen werden.
Ich bin Denker, möchte über meine Philosophie verglichen werden. Mich buchen Firmen, weil ich anders denken und neue Strategien entwickeln kann.
Unterwegs zu sein als Lebensphilosophie
— Wie hast du die Länder wahrgenommen?
ANDY HOLZER:So habe ich halt geschaut, welche Berge der Seven Summits es noch gibt. Da war noch der Everest und der Mount Vinson in der Antarktis. Letzterer war für mich rein finanziell schon utopisch. Für die Antarktis musst du 40.000 Euro hinblättern, damit du überhaupt hinkommst. Und dann brauche ich aber noch zwei Partner. Ich kann ja zu niemandem sagen: 'Leg soviel Geld am Tisch und du darfst einen Blinden in die Antarktis begleiten.'
Trotzdem hat es mich interessiert, weil mich die Länder, die Kulturen, die Sprachen der Berge, so fasziniert haben. Begegnungen mit tibetischen Yak-Treibern waren genial und doch so anders als ein Lama-Hirte in den argentinischen Anden. Auch die Träger vom Stamm der Dani auf Papua-Neuguinea oder der Buschpilot in Alaska, der mich zum Mount McKinley, der heute Denali heißt, flog. Auch die Massai in Afrika oder die Sherpas in Nepal. Als Blinder war ich sofort auf Augenhöhe mit ihnen, bin in ganz andere Dimensionen ihres Privatlebens und Vertrauens vorgedrungen.
Diese Diversität hat mich fasziniert und ich kann heute behaupten die Welt gesehen zu haben. Darum möchte ich unbedingt auch noch einmal die Einsamkeit der Antarktis erleben und auch zum Everest, den Rauch von verbranntem Yak-Dung riechen.
— Du sagst, du besteigst Berge über mehrere Routen, um so ein 3-D-Gefühl zu bekommen. Daraus, sagst du, entstehen Bilder. Färbst du die Bilder auch ein?
ANDY HOLZER:Natürlich! Als ich mein erstes Buch geschrieben habe, das mittlerweile in viele Sprachen übersetzt wurde, habe ich im letzten Kapitel geschrieben: Meine Lieblingsfarbe ist Hellblau. Die Lektorin von meinem deutschen Verlag brachte den Einwand: 'Das können wir so nicht bringen, das versteht kein Mensch.' Ich habe aber darauf bestanden. Dann streitet die mit mir und meint, ich könne mit Farben nichts anfangen. Die Leute würden uns auslachen. Dann frage ich sie, ob sie weiß, was eine Farbe ist. Sie sagt Blau, Braun, Grün. Sag ich, das ist nur die Bezeichnung, aber wie entsteht eine Farbe? Damit war sie völlig überfordert.
Dann hab ich ihr halt mit der Lichtbrechung auf einer strukturierten Oberfläche erklärt, wie sich das Licht in verschiedenen Wellenlängen bricht. Das Licht geht durch den Sehnerv ins Gehirn. Da gibt es noch keine Farbe. Die wird erst im Gehirn durch eine Botenstoff-Ausschüttung generiert. Damit wir uns überhaupt etwas vorstellen können. Aber was ist dann keine Farbe? Damit war sie erst recht überfordert. Keine Farbe wäre, wenn sich das Licht nicht bricht, also Transparenz. Auch Blinde haben den Farbkasten mit den Botenstoff-Ausschüttungen im Gehirn. Bei mir ist nur die Frage: Wie triggere ich diesen Farbkasten? Ob mein Grün oder Hellblau die gleiche Farbe ist, die die Schwingung in der Realität erzeugt, sei dahingestellt. Auch Sehende sind sich über Farben oft nicht einig. Alles eine Frage der Interpretation.
— Was ist Barrierefreiheit für dich?
ANDY HOLZER: Ein barrierefreies Hotelzimmer ist für mich als Blinder eine Katastrophe. Ich gehe bei einer überbreiten Türe hinein und drinnen finde ich mit den Händen keine Wand mehr. Was für Rollstuhlfahrer perfekt passt, zum Beispiel mit großem Wendekreis, ist für blinde Menschen eine Katastrophe. Für mich ist Barrierefreiheit eine kleine Türe und ein enger Raum, damit ich mit beiden Händen links und rechts die Grenzen spüre. So finde ich mich auch alleine zurecht. Aber in einem großen Raum bin ich verloren. Auch brauchen Rollstuhlfahrer schräge Gehsteigkanten, während der Blinde damit überfordert ist. Wer einen Blindenstock verwendet, verliert die Führung entlang der Gehsteigkante. Behinderungen sind halt vielfältig – wie die Menschen.
Zur Person: Andreas Holzer
3. September 1966 in Lienz/Osttirol blind geboren
1972: Lehnt Blindenschule in Wien ab, besucht die Grundschule in Lienz
1975: Mit neun Jahren besteigt er mit Vater und Mutter seinen ersten Berg in den Dolomiten, den Spitzkofel
1981: Spielt als Gitarrist, Bassist und Sänger in einer Tanzkapelle
1983: Berufseintritt als Heilmasseur
1990: Erste Klettertour mit Mentor Hans Bruckner auf die Große Sandspitze.
1990: Heirat mit Sabine
2005: Erste Auslands-Bergfahrten, Mont Blanc, Kilimandscharo