Dem Fließen zuschauen
Interview mit Christine de Grancy: Die Grande Dame der österreichischen Fotografie über Monster, Genies, Flüsse und das Radfahren.
Sie hat David Bowie fotografiert, als er 1994 die Künstler in der Nervenklinik Maria Gugging in Niederösterreich besuchte. Sie fotografierte den Kampf zweier Polo-Dorfmannschaften am 4.000 Meter hohen Shandurpass im Norden Pakistans, "dieses alte wilde Männerspiel", wie sie es nannte. Sie fotografierte Burgtheaterschauspieler während ihrer Proben, diskret und fast unbemerkt zwischen ihnen auf der Bühne. Christine de Grancy ist eine der größten und kompromisslosesten österreichischen Fotografinnen und Fotografen.
Sie sind berühmt für zwei total unterschiedliche Sachen: Ihre Arbeiten am Burgtheater und für einfühlsame Reisefotografie. Wie geht das?
Christine de Grancy: Eigentlich wollte ich nicht Theaterfotografie machen. Erika Pluhar hat mich gefragt. Der Benning (Burgtheaterdirektor Achim Benning, 1976–86, Anm.) sucht jemanden, sagte sie, und ich meinte, ich weiß nicht, ob mir das liegt, aber reden wir miteinander. Dann habe ich Benning erklärt, wie ich mir das vorstelle: Können wir eine Woche proben? Ich möchte das Stück vorher lesen…
Er war verblüfft: Das hat mich noch nie ein Fotograf gefragt. Aber so hab ich mir’s vorgestellt: Ich möchte drei, vier Tage einmal nur zuschauen und dann – ins Stück hineingehen. Unten stehen mit einem Stativ, das wollte ich nicht. Es war sehr dunkel, nur Bühnenlicht, eine Herausforderung. Ein Fünfzehntel aus der Hand. Mir war wichtig, die Emotionalität einzufangen.
Ich stand mit den Schauspielern auf der Bühne, die haben sich daran gewöhnt. Ein paar Tage vor der Premiere hat mir Kurt Sowinetz das schönste Kompliment gemacht: "Kann Sie der Benning nicht ins Stück einbauen? Sie werden mir fehlen."
Sie waren ja ursprünglich Grafikerin, wie sind Sie zum Fotografieren gekommen?
Christine de Grancy: Das hab ich immer schon gemacht, dilettantisch, schon während meiner Ausbildung in Graz, aber richtig begonnen hat es dann in Wien. Ich habe Wien kennengelernt, indem ich mich von einem Bezirk zum anderen verirrt habe. Und alte Geschäftsportale fotografierte, die hatten etwas Zauberisches für mich. Die Technik ist ja relativ einfach zu erlernen, aber Geschichten zu erzählen oder wie man beim Porträtieren mit einem Menschen zurechtkommt, das ist ein Geheimnis.
Einmal habe ich in der Werbeagentur den deutschen Fotografen F.C. Gundlach kennengelernt. Als ich ihm von einem Buchprojekt erzählt habe, sagte er, aha, wissen Sie, ich habe eine Fotogalerie in Hamburg. Er hat mich eingeladen und da habe ich das erste Mal von Sponsoring gehört. Was ist das, Sponsoring? Olympus hat damals Geld gezahlt für meine Ausstellung, das war 1979.
Wenn das Dort zum Hier wird
Ein ganz kurzer Einblick in die Fotoarbeiten von Christine de Grancy
Wann und wodurch ist die Lust am Reisen entstanden?
Christine de Grancy: Die Agentur hat mich Gott sei Dank hinausgeworfen, weil sie im Zuge der Ölkrise Personal einsparen mussten. Danach habe ich nie mehr in eine Anstellung zurückgefunden – und die Fotografie ist dann einfach gewachsen. Ich hab nicht gewusst, dass man nach zehn Jahren eine schöne Abfindungssumme kriegt, wenn man gekündigt wird. Jetzt hatte ich plötzlich Geld und bin ausgestiegen.
So entstand mein erstes Buch über die griechische Insel Patmos. Es ging mir nicht um einen Reiseführer. Es ging mir um eine gewisse Befindlichkeit, das letzte Atemholen vor der Gleichgültigkeit. Da war schon der Klimawandel ein Thema.
Ich war noch nie in Australien. Mich hat Amerika nur dreimal interessiert. Aber ich habe mich sehr lang auf Themen eingelassen.
Christine de Grancy, Fotografin
Waren Sie schon überall auf der Welt?
Christine de Grancy: Nein. Ich war noch nie in Australien. Mich hat Amerika nur dreimal interessiert. Aber ich habe mich sehr lang auf Themen eingelassen. Bei Russland war es extrem, mit jeder Reise mehr. Das hat einen Bezug für mich, wegen meines Vaters, der in Stalingrad war. Er hat das überlebt. Er ist später ganz in unserer Nähe gefallen, in der Lüneburger Heide. Das hat immer Fragen aufgeworfen.
Auch meine Zusammenarbeit mit Benning war maßgeblich, der wunderbare Inszenierungen russischer Dramatiker gemacht hat; so kam ich 1982 mit dem Burgtheater im Rahmen eines Staatsgastspiels in die Sowjetunion. Das war meine erste Reise nach Russland. Da musste ich wieder hin.
1995 gab ich im ORF ein Interview anlässlich einer Buchpräsentation und die Redakteurin, Barbara Rett, fragte mich, was ist das nächste Projekt? Da ist mir herausgerutscht, ich muss nach Russland. Es gab eine Freundin, zu der ich sagte: "Ulrike, du kannst Russisch, ich glaube, ich kann fotografieren, gehen wir nach Russland." Dieses riesige Land, der östlichste Rand Europas! Ich habe ihn vorverlegt zur Wolga, der Ural ist sicher auch schön, aber ein Fluss ist einfach eine andere Symbolik. An und für sich wollten wir das ein paar Jahre lang machen, aber das war ja vermessen. Es ging mir um die Menschen und um die Frage, was bedeutet der Alltag in der Provinz? Das ist für mich sowieso das Aufregendste, weil ich behaupte, aus der Provinz kommen die Monster und die Genies. Dort sind die Menschen authentisch.
Was bedeutet der Alltag in der Provinz? Das ist für mich sowieso das Aufregendste, weil ich behaupte, aus der Provinz kommen die Monster und die Genies.
Christine de Grancy, Fotografin
Was bedeutet Reisen für Sie? Ist das immer ein Kennenlernen, ein Abenteuer?
Christine de Grancy: Der Aufbruch ist immer sehr ängstlich. Dann, wenn ich unterwegs bin, frage ich mich, wovor ich Angst hatte. Der Aufbruch ist wie eine Geburt, auch da hat man eine Reise vor sich, eine Lebensreise. Deswegen liebe ich auch Flüsse. Ich will diesem Fließen zuschauen, von der Quelle bis zum Schluss, und sehen: Wie verwandelt sich das?
Ich liebe Flüsse. Ich will diesem Fließen zuschauen, von der Quelle bis zum Schluss, und sehen: Wie verwandelt sich das?
Christine de Grancy, Fotografin
Haben Sie noch Lust am Reisen?
Christine de Grancy: Nicht mehr wirklich. Es ist eine Frage der Zeit. Ich bin jetzt 81 und eigentlich sollte ich mein Oeuvre noch digitalmäßig besser betreuen. Es ist schon wichtig, dass man das selber bearbeitet. Das ist der Rest meines Lebens: Das Ganze noch digitalisieren.
Wie gestaltet eine Weitgereiste wie Sie ihren mobilen Alltag in Wien?
Christine de Grancy: Ich bin leidenschaftliche Radfahrerin. Ich hatte auch Autos, immer nur kleine, bin lange einen 2CV gefahren, dann einen Mini.
Aber Radfahren ist wirklich eine Leidenschaft. 2010 bin ich fast abgesprungen: über drei Wochen künstliches Koma, eine Gallenstein-Geschichte. Das war haarscharf. Irgendwie habe ich mich derfangen – und meine erste Frage soll gewesen sein, ob ich wieder aufs Rad komme.
Christine de Grancy, Fotografin
Geboren 1942 in Brünn.
Kindheit und Jugend in Berlin, der Lüneburger Heide, Bayern und in Graz.
Ab 1963 als Grafikerin und Artdirector in Werbeagenturen in Wien.
1965 Beginn der fotografischen Tätigkeit.
1979 von Direktor Achim Benning als Fotografin für das Burgtheater engagiert.
Veröffentlichungen mehrerer Bildbände, etwa über die Tuareg in der Westsahara oder russische Dorfbewohner an der Wolga.
Diverse Reisen, u.a. nach Algerien, Georgien, Pakistan, China und Japan.
Christine de Grancy wurde anlässlich ihres 80. Geburtstags vom LFI Leica Fotografie International Journal gewürdigt. Ihr Werk ist ausschließlich analog entstanden.
Buchtipp
Über der Welt und den Zeiten – Bildergeschichten von Christine de Grancy
21x28 cm, 240 Seiten s/w, Hardcover, ISBN 978-3-9503455-9-9, Verlag: Die2 (Mercedes Echerer)
Sturm und Spiel – Die Thetaerphotographie der Christine de Grancy
21x28 cm, 224 Seiten s/w, Hardcover, ISBN 978-3-9505034-1-8, Verlag: Die2 (Mercedes Echerer)