Paul Stanley von KISS

Fast 50 Jahre lang stand er als "Starchild" mit KISS auf der Bühne, jetzt ist Schluss. Paul Stanley im Exklusiv-Gespräch über seine Karriere in einer der legendärsten Hardrock-Bands aller Zeiten.

Das Finale wird wohl im kommenden Frühjahr in jener Stadt passieren, die KISS ursprünglich zur Welt gebracht hat: New York City.

1973 verdingte sich Paul Stanley dort als Taxifahrer, als er eines Abends Fahrgäste zu einem Elvis-Konzert im Madison Square Garden brachte und daraufhin kurzerhand entschied, in der berühmtesten Konzerthalle der Welt auch irgendwann einmal aufzutreten.

Nun, vom gelungenen Vorhaben (KISS haben den "Garden" bis dato unzählige Male gefüllt) zeugen heute 100 Millionen verkaufte Alben und der Status als einer der wichtigsten Frontmänner der Rockgeschichte.

Vor dem allerletzten Konzert in Österreich lässt er mit uns das vergangene halbe Jahrhundert KISS Revue passieren…

Das Ende von KISS wird mir das Herz brechen. Erstaunlich, wie beiläufig man oft von der Zukunft spricht und plötzlich ist sie dann einfach da.

Paul Stanley, Gitarrist, Gründer und Frontman von KISS

End of the road

Es bleiben nur noch wenige Monate bis zum definitiven Ende von KISS. Was geht dir momentan durch den Kopf?


paul stanley: Während dieser mittlerweile schon drei Jahre dauernden Tour hatten wir schon rund 100 Konzerte gespielt, als Covid der Welt und uns einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. In der folgenden Zwangspause habe ich erstmals realisiert, dass alles, was danach noch kommt, unsere letzte Runde sein wird.

Weil wir momentan aber soviel Spaß bei den Konzerten haben wie nie zuvor, sehen wir den Rest schlicht als Ehrenrunde für die Fans. Aber natürlich wird mir langsam klar, dass es schlimm wird, wenn ich bald zum letzten Mal von einer KISS-Bühne steigen werde. Es wird mir vermutlich das Herz brechen. Ist es nicht erstaunlich, wie beiläufig man oft von der Zukunft spricht und plötzlich ist sie dann tatsächlich da?

Rückblick

Wirst du am ständigen Unterwegssein etwas vermissen? Und manches vielleicht nicht?

paul stanley: Die intensive Bindung zu den Fans wird mir extrem fehlen. Andererseits freue ich mich aber darauf, nicht mehr so oft von zu Hause weg zu sein. Ich bin ein Familienmensch und habe mir in den letzten Jahren immer öfter gewünscht, zaubern zu können und nach zwei Stunden auf irgendeiner Bühne dieser Welt einmal mit den Augen blinzeln zu können und im nächsten Moment daheim in der Küche zu sitzen, um Pizza zu backen.

Dazu kommt, dass das, was wir tun, physisch enorm anstrengend ist. Und ich bin jetzt nun einmal 70 Jahre alt und nicht 25. Niemand würde von einem Rennfahrer erwarten, in diesem Alter noch an der Spitze mitzufahren. Der Zenit, an dem wir mit Würde aufhören können, ist jetzt erreicht.

Apropos Rennfahrer: Vor kurzem hast du deine extra für dich angefertigte Chevrolet Corvette mit der Seriennummer 001 verkauft. Mit der Begründung, dass du dem Auto nicht gerecht wirst. Was bleibt noch in der Rockstar-Garage?

paul stanley: Nur noch ein Mercedes G63 AMG und ein Cadillac Escalade. Beides exzellente Autos mit viel Platz für die Kinder.

Was wir tun, ist physisch enorm anstrengend. Ich bin jetzt 70 und nicht mehr 25.

Paul Stanley, KISS-Gitarrist

Am Zenit

Zum Jahreswechsel 2020/21 haben KISS in Dubai ein Konzert gespielt, bei dem das Publikum wegen der Pandemie nur von den Balkonen ihrer Hotelzimmer gegenüber der Bühne zusehen konnte. Dennoch hat der Auftritt alle Rekorde gebrochen – unter anderem den für die größte Pyrotechnik-Show der Rockgeschichte.


Great Expectations

Auf einem Foto, das du kürzlich auf Twitter geteilt hast, sieht man dich 1976 bei einem der ersten großen KISS-Konzerte. Was hättest du damals gesagt, wenn ich dir prophezeit hätte, dass du noch fünfzig Jahre später in riesigen Stadien vor 60.000 Menschen spielen wirst?

paul stanley: (lacht) Ich hätte dich für verrückt erklärt. Die Vorstellung, dass eine Band über mehrere Jahrzehnte existieren könnte, war damals noch völlig undenkbar. 

Die ersten gefilmten Live-Auftritte

KISS 1975 während einer frühen US-Tour. Die Bühne sah im Gegensatz zu heute eher mickrig aus.


Selbstverständnis

Ihr schminkt euch bis heute noch immer selbst. Warum lasst ihr die mühsame Prozedur nicht von Make-up-Artists erledigen? Am Geld würd’s ja nicht scheitern, oder?

paul stanley:(lacht) Nein, das nicht. Aber es ist eine Metamorphose, die wir von Beginn an selbst durchführen wollten. Mich lässt dieser Vorgang in meine Rolle schlüpfen. Es würde sich einfach falsch anfühlen, wenn das jemand anderer für mich macht.

Eine Frage von und für Fans: Was war euer bestes und welches das schlechteste Album?

paul stanley: Dazu haben wir sogar innerhalb der Band unterschiedliche Meinungen. Aber als Gesamtkonzept halte ich sowohl die "Destroyer" von 1976 als auch die "Revenge" von 1992 für fantastische Alben. Das waren Meilensteine für uns. Auch "Sonic Boom" von 2009, eines unserer letzten, finde ich unglaublich gut. Die Platte kann ganz objektiv mit unseren erfolgreichsten Alben mithalten. Der Unterschied ist, dass sie aus der Neuzeit stammt und noch nicht wie ein guter Wein reifen konnte. Die meisten Menschen verbinden mit Musik nämlich Erinnerungen. Dafür fehlt jüngeren Alben die Zeit, weil sie naturgemäß nicht diese magische Nostalgie erzeugen können.

Und was die schlechteren Alben betrifft: "Unmasked" und "Carnival Of Souls" hätten nicht sein müssen. Das sind gute Beispiele dafür, dass es nicht funktioniert, wenn man versucht, etwas zu sein, das man in diesem Moment als Band nicht ist.

Musikalische Aussetzer

1980 erschien das Album "Unmasked", das Paul Stanley aus heutiger Sicht so wohl nicht mehr veröffentlichen würde. Darauf zu finden: die (dennoch sehr erfolgreiche) Disco-Ballade "Shandi".


Seitensprung

Auch wenn KISS demnächst aufhören, bleibt immer noch deine Band "Soul Station", mit der du als Solo-Projekt komplett andere Musik machst als mit KISS. Sind damit eigentlich Konzerte in Europa geplant?

paul stanley: Ich habe den Motown-Soul-Sound schon immer geliebt. Und das teile ich nun mit 16 Menschen, die das auch so sehen, perfekte Musiker/-innen sind und das aus purer Freude machen. Europa? Natürlich, warum nicht? An der "Soul Station" dürfen alle anhalten. (lacht)

Detroit Soul City

Klingt ganz anders als KISS: Soul Station, die Motown-Band von Paul Stanley.


Gene und ich haben gewonnen. Wir müssen nichts mehr beweisen.

Paul Stanley, KISS-Gitarrist

Gene Simmons

Dein langjähriger Weggefährte (und KISS-Bassist, Anm.) Gene Simmons wirkt ganz anders als du. Seinem Hang zur brachialen Extrovertierheit scheint dein sensibles Naturell diametral gegenüber zu stehen. Wie lautet das Geheimnis eurer ungleichen Freundschaft?

paul stanley: Wir funktionieren miteinander heute besser als früher. Es gibt für uns ja keinen Grund mehr zu streiten, weil wir gemeinsam wirklich alles gewonnen haben. Und wir respektieren, was der andere kann und was nicht. Gesunde Beziehungen bestehen meines Erachtens aus der Wertschätzung der Unterschiede, denn davon profitiert immer auch das Gegenüber. Wir sind wohl wie ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr beweisen muss. (lacht)

Ist wirklich Schluss?

Ihr habt beide immer gesagt, dass KISS als Marke nicht unbedingt enden muss, wenn ihr aufhört. Ist es vorstellbar, dass eure beiden erwachsenen Söhne Evan und Nick in die Fußstapfen ihrer Väter treten und deren Rollen in der Band übernehmen?

paul stanley: Nein, auf keinen Fall. Und ich bin überaus dankbar dafür, dass auch keiner der beiden das möchte. Zum einen sind sie selbst schon tolle Musiker und werden ihren Weg gehen. Und zum anderen geht es für Kinder in ihrem Leben mit Sicherheit nicht darum, ausgerechnet das gemachte Nest der Eltern zu übernehmen, sondern Träume zu verfolgen, die noch viel weiter darüber hinaus gehen.

Einen dieser Träume hat…

… sich 2016 der damals 12-jährige Logan Robot Gladden erfüllt. Für ein paar Songs durfte er sich mit seiner Lieblingsband ans Schlagzeug setzen – und hat dabei nicht nur die Profis neben ihm erstaunt.


Zur Person: Paul Stanley


Geboren am 20. Jänner 1952 in New York City (USA)
Bürgerlicher Name: Stanley Bert Eisen
Mutter stammt aus Berlin und flüchtete 1933 vor den Nazis in die USA
1973: Gründung von KISS mit seinem Freund Gene Simmons
Wichtigstes Album: Destroyer (1976)
Mehr als 100 Millionen verkaufte Alben weltweit
2014: KISS wird in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen
Verheiratet mit der Anwältin Erin Sutton
Zwei Töchter (10, 13), zwei Söhne (15, 28)
Lebt in Beverly Hills, Los Angeles (USA)