Mein Optimismus hat mich weitergebracht

Die 94-jährige Helga Sigmund aus Salzburg erzählt In ihrer Biografie "Mein Leben – ein Tanz", wie sie es immer wieder aufs Neue schaffte, Lebensmut zu gewinnen.

Anfänglich weigerte sich mein Inneres, meine Vergangenheit wieder hervorzuholen, doch später forderte ich mich selbst täglich auf, meine Erinnerungen wach werden zu lassen." Das schreibt die heute 94 Jahre alte Helga Sigmund (geboren am 1. Dezember 1920) in ihrer Biografie "Mein Leben – ein Tanz", die sie mit 80 Jahren begonnen hat und die ihren beiden Kindern Udo und Jutta gewidmet ist.

Ich musste weinen, als ich das Kapitel "Kriegsgeschehen" las. Helga hatte kein leichtes Leben. Ihr Optimismus hat sie ständig weitergebracht: "Und was für ein Optimist ich war! Aber heute sage ich mir: Es war alles richtig, wie es geschah. Wenn ich zurückdenke, wie viele Rückschläge wir zu verkraften hatten, müsste ich verzweifeln. Aber man darf sich der Verzweiflung nicht hingeben, das lähmt das Vorwärtskommen, und das wollten wir doch nicht."

Helga Sigmund kam nach dem Ersten Weltkrieg in Brünn zur Welt, wenige Woche nach ihrer Hochzeit im Jahr 1941 wurde ihr Mann zum Militär einberufen und sie wurde schwanger. 1944 verließ sie Dresden mit ihrem zweijährigen Sohn Udo und flüchtete zu ihrem Vater ins Sudetenland. Doch auch hier erlebte sie den bitteren Krieg. "Wir rannten, ohne uns umzusehen, es hagelte nur so von Kugeln."






Ich habe wirklich ein schweres Leben gehabt. Aber ich liebe meine Leben.






Helga Sigmund, Zeitzeugin


Den Optimismus hatte sie wohl von ihrem Vater: "Auch alle unsere Lebensmittel nahmen die Russen mit, und nun brach die Not bei uns aus. Aber nicht bei meinem Vater – der fand immer wieder einen Ausweg. Er borgte sich von einem Bauern zwei Ziegen aus, ich lernte melken, er hielt sich Kaninchen und das Leben ging weiter."

Im Krieg hatte Helgas Vater alles verloren: "All seine Habe, die Villa in Dresden, den Betrieb mit Holzbestand und den Pferden." Immer wieder erzählt die heute 94-Jährige, dass ihr kleiner Sohn Udo ihrer Familie den nötigen Halt und Mut gegeben hat. Nur zu gern hätte sie sich manchmal die Pulsadern aufgeschnitten. Aber: "Man muss im Leben kämpfen, um nicht kampflos vor seinem Schicksal zu kapitulieren."

Durch die Hilfe eines russischen Offiziers – ihr Schutzengel, wie sie ihn nennt – floh sie nach Österreich, mit ihm konnte sie ohne Kontrolle die Grenze passieren. "Er hat mir und meinem Sohn das Leben gerettet." Die Familie ihres Mannes verhalf ihr, von der amerikanischen Botschaft eine Ausreisebewilligung zu bekommen. Hier spielten einige Zufälle zusammen. "Zufall ist, wenn einem etwas von Gott zufällt", sagt Helga. Nach vielen Jahren traf sie auch ihren Mann Georg wieder, der sie von Wien mit nach Salzburg nahm. "Nun ging es in die Freiheit, heraus aus der Russenherrschaft!"

Helgas Fitness-Formel

Die Ur-Oma ist noch heute mit 94 fitter als so manche Vierzigjährige – ihre Mutter wurde übrigens 101 und ihre Oma 95 Jahre alt. Vor ein paar Jahren erneuerte Helga noch eigenhändig Steinplatten um ihren Swimmingpool. Sie schaufelt Schnee, pflegt den Garten – mäht sogar selbst den Rasen – und turnt täglich 30 Minuten.






Ich mache täglich 30 Minuten Gymnastik, das hält mich fit.






Helga Sigmund, Tänzerin
"Einen Spagat könnte ich sicherlich noch heute", lacht die ehemalige Gymnastiklehrerin, hebt ihr gestrecktes Bein in die Höhe und stupst mit dem Knie ihre Nase an. "Meine letzte Turnstunde unterrichtete ich mit 80 Jahren an der Volkshochschule, dadurch bin ich so fit geblieben." Der Fotograf und ich sind baff.

"Noch eine Tasse Kaffee?" Die Salzburgerin schenkt uns mit ruhiger Hand nach. Hilfe nimmt sie prinzipiell keine an. Einen Gehstock braucht sie auch nicht. "Das macht mich nur faul." Auch ihre steilen Stufen im Garten wurden ohne Geländer gebaut.

Tanz war schon von Kind an Helgas Leidenschaft, gerne gab sie ihrer Tante und ihrem Onkel kleine Aufführungen und bastelte sich aus Gardinen ein geeignetes Outfit. Später konnte sie endlich in Brünn bei einer sehr guten Tänzerin Unterricht nehmen und in Dresden lehrte Tanz-Ikone Mary Wigman sie den Ausdruckstanz, den sie als New German Dance international bekannt gemacht hat.

Helga schreibt in ihrer Biografie "Mein Leben – ein Tanz": "Wer nicht tanzt, der hat nicht gelebt, wer nicht tanzt, kennt auch nicht das Gefühl, wie Musik in einen schleicht, wenn der Körper sich in Bewegung setzt, wenn man daraufhin die Umwelt vergisst und nur noch die Musik empfindet, die der Körper fühlt."

Schlimm genug war es für Helga, dass sie sich in der Nachkriegszeit keinen Tanzunterricht leisten konnte. Erst in den 1960er- und 70er-Jahren ging es ihrer Familie wieder besser und sie belegte an der Volkshochschule Gymnastikkurse. "Ich wollte ein wenig Licht am Horizont leuchten sehen, sonst würde ich auf die Dauer seelisch und körperlich erkranken." Nach ein paar Jahren übernahm Helga bereits ein paar Stunden von ihrer Lehrerin – das gab ihr wieder Halt im Leben. Und sie erlernte weitere Techniken des Tanzes, damals ganz neu: Jazz Dance.

Helga und ihre Autos

"Ich bin schon mit 16 Jahren Auto gefahren", erzählt Helga Sigmund bei einer Malakofftorte auf ihrer Terrasse. "Natürlich nur abseits der Straße, in der Nähe des Sägewerks meines Vaters." Später chauffierte sie ihren Mann in einem VW K70. "Er ist leider sehr schlecht Auto gefahren, hat oft die Handbremse mit dem Ganghebel verwechselt", lacht sie.

In den 1960er-Jahren hatte Familie Sigmund einen VW-Käfer. Doch für ihren Schiurlaub war er leider zu klein. Da die vierköpfige Familie nicht alle Schier im Auto unterbrachte, mussten die Eltern auf den Sport verzichten, sie gingen spazieren. Weihnachten 1965 sollte etwas Besonderes sein für die Familie, "auf den Gesichtern beider Kinder stand ein Lächeln, das alle Christbaumkerzen überstrahlte." Der Vater schenkte seiner Familie einen nagelneuen, dunkelgrauen VW-Variant. Dem gemeinsamen Schiurlaub stand nichts mehr im Wege.

Heute fährt Helga mit 94 Jahren einen Mazda 2. Warum gerade den? Weil sie den Hebel zur Lehnenverstellung schätzt. Auf langen Autofahrten – häufig fährt sie in ihre Heimat nach Dresden – benötigt sie oft eine Pause, möchte sich am Rastplatz zurücklehnen. "Bei jedem anderen Auto muss ich ein Verstellrad drehen, da wache ich ja wieder auf. Ich will mich aber ausruhen und schlafen." 

Mein Leben so abwechslungsreich wie ein Tanz, war geprägt von Turbulenzen und überstandener Furcht, sodass ich mit Dankbarkeit an alle Erfolge und seine Schönheit denken muss.

Helga Sigmund

Der Traum vom eigenen Haus

"Wer wird das bezahlen?" fragte Helgas Mann sie, als sie mit dem Hausplan für Großgmain fertig waren. Schritt für Schritt bauten sie das Haus. Die ersten Jahre stand nur die Garage und sie nutzten sie als Wochenendhäuschen. Oft hörten sie Passanten reden: "Die bau'n aber kloan."

"An dem Haus haben wir bestimmt 20 Jahre lang gebaut", erzählt die 94-Jährige. Ziegel tragen, Beton mischen, eine Stützmauer musste errichtet werden, damit der Hang nicht wieder ins Rutschen kam – Helga und ihre Familie machten fast alles selbst. "Ein altes Sprichwort besagt, dass handwerkliches Können oft mehr Wert besitzt als studiertes Wissen", schreibt Helga in ihrer Biografie. 

Helga lässt nicht locker!

"Ich bin noch so zäh, weil meine Familie mich braucht", erzählt Helga Sigmund. "Ich habe zwei Kinder, vier Enkel und fünf Urenkel." Helga Sigmund näht noch heute für ihre Kinder. "Gestern war meine Enkelin mit einer Freundin und vier Kindern bei mir. Sie hat mir gleich ihr zu enges Dirndl in die Hand gedrückt. Natürlich habe ich es gleich umgenäht", lacht die Uroma.

"Nähen und Tanzen waren schon immer meine Talente", erzählt sie. Bereits in der Schule konnte sie sich mit dem Nähen Taschengeld dazuverdienen und in der schweren Nachkriegszeit waren ihre Nähkünste teilweise die einzigen Einnahmen der Familie Sigmund. Sie musste vorübergehend die Rollen mit ihrem Mann tauschen. Er kochte und räumte auf und Helga wurde als Zuschneiderin bei der Firma Ornstein in der Getreidegasse in Salzburg angestellt. Mit einer Kollegin machte sich Helga danach sogar für eineinhalb Jahre selbstständig. Eines ihrer schönsten Stücke war wohl ein Abendkleid für ein Tanz-Turnier, mit Hunderten von Perlen bestickt.

Auch wenn Helga mit ihrem Mann Bälle besuchte, fertigte sie sich einzigartige Abendroben, die von allen Seiten bewundert wurden. "Es war in mir ein unvorstellbarer Ehrgeiz, anders gekleidet zu sein als die breite Masse." Helga liebte schon immer das Extravagante.

Extravagant, einzigartig ist auch ihr Leben. "Ich habe wirklich ein schweres Leben gehabt. Aber ich liebe mein Leben."

Mein Leben - ein Tanz. Biografie einer Vertriebenen, von Helga Sigmund, erschienen im November 2013 im novum Verlag.

Lachen gehört zum Leben wie der Atem oder das Essen. Es durchströmt einen mit Glückseligkeit, mit Freude oder auch mit Erleichterung.

Helga Sigmund