Mehr Mobilität, weniger Auto

Autos selbst zu besitzen ist laut Stefan Carsten für immer weniger Menschen erstrebenswert. Wie wir in Zukunft in Stadt und Land von A nach B kommen und was weibliche von männlicher Mobilität unterscheidet, erklärt der Trendforscher im Interview.
 

Welche Mobilitätstrends werden in den kommenden Jahren unseren Alltag prägen?

Das Fahrrad wird massiv an Bedeutung gewinnen. Immer mehr Städte gestalten ihre öffentlichen Räume um und stellen dabei das Auto viel weniger als früher in den Mittelpunkt. Ins Zentrum rücken dafür Fußgänger, Fahrradfahrer und die öffentlichen Verkehrsmittel. Dadurch werden die Wege für Fahrradfahrer immer sicherer, wodurch immer mehr Menschen das Fahrrad nutzen. Das Fahrrad ist also einer der großen Gewinner der letzten Jahre. Das schließt sowohl das normale Fahrrad, aber vor allem auch das elektrifizierte Lastenfahrrad mit ein.

Wie verändert sich das Angebot für jene Verkehrsteilnehmer, die sich nicht auf den Sattel schwingen wollen?

Die Öffis werden immer stärker zur Plattform, indem sie unterschiedliche Mikromobilitätsangebote integrieren.

Wie kann man sich das vorstellen?

Über die Zugangskarten für die Öffis erhalten die Menschen auch Angebote, um Bike-Sharing, Carsharing, Fahrräder oder Scooter zu nutzen. Das ist besonders für Gegenden interessant, in denen die Öffis nicht so stark ausgebaut sind. In solchen Räumen arbeiten verschiedene Partner immer enger zusammen, um Mobilität für alle anzubieten und um die letzte Meile komfortabler zu gestalten.

Welchen Stellenwert wird das Auto haben, wenn sich solche Modelle etablieren?

Immer mehr Menschen hinterfragen den Besitz von Autos. Dafür werden Abo- und Mietanbieter sowie Leasing-Gesellschaften immer mehr Flottengeschäfte aufziehen und Kunden mit kurzfristigen Angeboten versorgen. Der gesellschaftliche Trend dahinter ist vollkommen klar: Die Menschen wollen Flexibilität und Unabhängigkeit. Sie wollen sich nicht binden, sie wollen in jeder Situation das bestmögliche Mobilitätsangebot nutzen. Das bekommen sie heute bereits in vielen Städten, auf dem Land besteht dagegen noch großer Aufholbedarf.

Welche Ansätze gibt es für ländliche Gegenden, wo Öffis Mangelware sind und wo häufig Distanzen zurückgelegt werden müssen, die mit dem Rad nicht zu schaffen sind?

Es gibt einen Megatrend im Rahmen der Mobilität namens On-Demand-Ridepooling. In diesem Konzept nutzen Menschen kleine und große Autos, Shuttles und Busse, die bedarfsgerecht zur Verfügung stehen. Nicht, wann es ein Fahrplan vorsieht, sondern dann, wenn die Menschen sie rufen. Die Anfahrtszeit hängt natürlich vom Standort ab, sie dauert aber in der Regel aber nicht viel länger als 10-15 Minuten. Solche flexiblen und kurzfristigen Angebote werden im ländlichen Raum den öffentlichen Verkehr massiv aufwerten.

Gibt es schon Regionen, in denen dieser Ansatz umgesetzt wurde?

In Bayern gibt es bereits erfolgreiche Testregionen. Die Anbieter schreiben oft schon nach zwei, drei Jahren schwarze Zahlen und die Konzepte werden von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen, vor allem von älteren Menschen und Verkehrsteilnehmerinnen, also von jenen, denen heute weniger Mobilitätsangebote zur Verfügung stehen.

Handelt es sich um private Anbieter oder um Angebote der öffentlichen Hand?

In der ersten Phase sind es meistens Reallabore, die von der öffentlichen Hand gefördert werden. Die Tests laufen aber in der Regel so gut, dass sie rasch in den öffentlichen Angebotsverkehr integriert werden und positiv bilanzieren. Es gibt aber auch immer mehr Unternehmen, die ihre Mitarbeiter-Mobilität verbessern wollen und deshalb On-Demand-Shuttles zur Verfügung stellen, vor allem um sich in Zeiten des Fachkräftemangels positiv zu positionieren. Sie werden genutzt, um Mitarbeiter:innen in die Firma zu bringen, aber ansonsten stehen sie auch der Bevölkerung zur Verfügung. Wir erkennen also eine stärkere Kollaboration von neuen Akteuren mit traditionellen Akteuren und das ist sehr spannend.

„Immer mehr Menschen hinterfragen den Besitz von Autos.“ 

Stefan Carsten, Trendforscher

Welche Faktoren entscheiden darüber, ob Menschen solche neuen Angebote annehmen?

Ein ganz entscheidender Faktor für den Erfolg solcher Modelle ist autonomes Fahren. In China und den USA fahren bereits tausende autonomer Fahrzeuge. Sie funktionieren immer noch nicht reibungsfrei, aber es ist nur noch eine Frage von wenigen Monaten, bis diese Fahrzeuge auch in der Fläche in Deutschland und in Österreich ausgerollt werden. Dadurch werden die Angebote preislich immer attraktiver und flexibler. Denn autonome Autos müssen sich nicht ausruhen und sie unterliegen keinen Tarifverträgen. Sie stehen einfach zur Verfügung. Wir müssen uns auf diese Zeit vorbereiten – schleunigst! In Europa tun wir immer so, als ob diese Technologie ganz weit weg wäre. Doch das ist nicht der Fall.

Gehen Sie davon aus, dass die Politik wirklich so rasch grünes Licht für vollautonome Fahrzeuge geben wird?

Deutschland hat beispielsweise den weltweit fortschrittlichsten Rechtsrahmen für autonomes Fahren. China und die USA sind diesbezüglich längst nicht so weit. In diesen Ländern wird sie aber eingesetzt. In Deutschland nicht. Das liegt vielfach an kommunalen Politikern, die auf der Bremse stehen. Aber es liegt nicht am großen Rechtsrahmen, überhaupt nicht!

Wie weit sind denn die Autohersteller aus Europa für diese Entwicklung gewappnet?

Sie sind nicht gewappnet. Die europäische Automobilindustrie ist hinten dran, was Elektromobilität und was autonomes Fahren anbelangt. Und das ist sehr, sehr traurig. Das ist möglicherweise der Sargnagel für diese Industrie, die schon heute nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Ich bin in diversen Fördergremien für die Zuliefererindustrie. Viele verabschieden sich leider gerade vom Markt. Fabriken von großen Zulieferern werden in Deutschland stillgelegt, weil sie keine Aufträge mehr bekommen, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Wir sehen hier einen immensen Strukturwandel und Transformationsprozess, der aber der gesamten Mobilitätsindustrie gut tut.

Wieso das?

Weil wir immer noch Fördermittel, die Politik und die Rechtsrahmen am Auto ausrichten. Es wird Zeit, dass wir mehr über die Mobilität nachdenken und weniger über das Auto. Natürlich ist das Auto weiterhin wichtig. Das ist überhaupt keine Frage. Aber die Eindimensionalität in der Debatte ist schon sehr, sehr hemmend für alle Akteure. Und die Chinesen und die Amerikaner sind viel weiter, weil sie Elektromobilität und autonomes Fahren schon vor zehn Jahren als Wettbewerbsfaktor identifiziert haben. Sie haben auf diese neuen Technologien gesetzt und sind deswegen den europäischen Herstellern überlegen.

Wie wird Künstliche Intelligenz unsere Mobilität beeinflussen?

In der Schweiz steige ich in den Bus, die Bim oder den Zug und ich swipe auf einer App einmal nach rechts und das System erkennt mich. Das System weiß, womit ich unterwegs bin, und am Ende des Tages logge ich mich aus dem System wieder aus und bekomme eine Rechnung. In Zukunft muss ich mich nicht mehr einloggen, das wird die KI machen. Sie erkennt, womit ich unterwegs bin.

Sie haben drei große Mobility Reports verfasst: Was war die spannendste Erkenntnis?

Besonders spannend ist für mich der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Mobilität.

Worin unterscheiden sie sich?

Die weibliche Mobilität weist viel mehr Wege pro Tag auf, sie ist viel multimodaler und sie findet oft unter Zeitstress statt. Die Wege im Ganzen sind kürzer. Die weibliche Mobilität findet immer im Nahraum und noch viel öfter mit Kindern oder mit älteren Menschen statt. Die Frau ist tatsächlich das größte und das wichtigste Wachstumssegment der Mobilität. Wie männliche Mobilität aussieht, sehen wir dagegen in unseren Straßen und anhand der Pendlerströme.

Glauben Sie, dass die mobile Zukunft für alle insgesamt günstiger, flexibler und unkomplizierter wird?

Ja, und nachhaltiger. Ich glaube, dass die Mobilität der Zukunft die Menschen sehr viel glücklicher und zufriedener machen wird und sie sicherer von A nach B bringt als die heutige. Sie wird besser funktionieren als die heutige Automobil-zentrierte Denkweise und Ausgestaltung. Das sehen wir überall, wo diese neuen Angebote bereits zur Verfügung stehen. Auch Autofahrer steigen um, weil sie viel mehr Angebote zur Verfügung haben als jemals zuvor. Und das ist sehr, sehr positiv.


 


Zur Person:

Stefan Carsten widmet sich als Zukunftsforscher, Keynote Speaker, Berater und Autor dem Zusammenspiel der Megatrends Mobilität und Urbanisierung. Er war Projektleiter in der Zukunftsforschung der Daimler AG und konzipierte dort neue Mobilitätsdienste wie car2go und moovel. Seine Expertise ist u.a. auch als Beirat des Bundesverkehrsministeriums sowie der IAA Mobility und des Reallabors Radbahn in Berlin gefragt. Seit 2019 veröffentlicht Dr. Stefan Carsten in Kooperation mit dem Zukunftsinstitut den Mobility Report.