Checkpoint Charlie
Alles wissen, alles sehen, alles checken. In der Formel 1 führt an ihm kein Weg vorbei:
Charlie Whiting, oberster Sicherheits- und Regelwächter der FIA.
Bitte warten! Gedränge vor der geschlossenen weißen Tür. Ein Gefühl wie beim Hausarzt zur Grippezeit, wäre da nicht das Schild "Race Director". "Ist Charlie überhaupt da?", fragt jemand ungeduldig, warten will niemand. Charlie Whiting, der ultimative Oberchecker der FIA, ist an Rennwochenenden der "Go-to Guy" der Formel 1. Der, den jeder fragt, von dem alle irgendetwas wollen. Auch wir: Wir wollen ein Interview. Endlich geht die Tür auf, wir sind dran. "Ihr habt zehn Minuten, dann habe ich ein Rennen zu starten", lächelt der schlohweiße sportliche Sechziger verschmitzt.
Formel-1-Fans kennen Charlie als den Mann, der den Startknopf drückt. Aber ist der Job eines Renndirektors nicht wesentlich komplexer? "Sicher! Ich habe viel mehr zu tun als nur den Knopf zu drücken", lacht Charlie. "Von Mittwoch bis Sonntag muss ich alles rund um einen Grand Prix permanent kontrollieren: den Streckenzustand, die Autos – ich bin ja auch für die technischen Abnahmen zuständig, wobei mich ein kompetentes Team unterstützt – und vieles mehr." Vieles mehr: Dazu gehören auch Fahrerbriefings. Die Rennen überwacht Charlie Whiting aus seinem Chefsessel vor der Video-Wand im Halbdunkel der Race Control. Von hier aktiviert er im Notfall die Rettungskette, gibt persönlich den Einsatzbefehl an das Safety Car. Was er im Vorjahr beim Unglücksrennen im Starkregen von Suzuka nicht tat, nicht sofort: als der Franzose Jules Bianchi trotz doppelt geschwenkter gelber Flaggen mit hoher Geschwindigkeit in einen Bergebagger krachte und schwerste Kopfverletzungen erlitt. "Das darf nie mehr passieren", sagt Charlie. Ab Saisonstart im März in Australien soll mit den Flaggen auch ein "Virtuelles Safety Car" aktiviert werden: ein Lichtsignal, das die Fahrer einbremst.
Charlie nimmt einen Schluck Wasser, hält kurz inne. Ein Bauplan auf seinem Schreibtisch fällt auf, penibel gefaltet, mit der Aufschrift "Imola". Also stelle ich die Frage, was zu tun ist, wenn Strecken, neue oder alte, wieder in den Formel-1-Kalender aufgenommen werden? Ruhig erklärt Charlie: "Wenn ich euren Red Bull Ring hernehme, das war einfach, weil er sich ja nicht so maßgeblich verändert hatte. Ich bin im Jahr vor dem Rennen einige Male dort gewesen, habe mit den Verantwortlichen Details besprochen, das war’s. Bei völlig neuen Strecken wie Austin oder Sotschi war das schon anders. Da war ich bereits ab der Layout-Phase eingebunden, habe mit Designern diskutiert. Und noch während der Bauarbeiten kam ich fünf- oder sechsmal an die Strecke. Ein ziemlich energie- und zeitraubender Prozess."
Aber die größte Schwierigkeit seines Jobs sieht Charlie Whiting – augenzwinkernd – darin, die Fahrer unter Kontrolle zu halten. Die Gewährleistung absoluter Sicherheit von Autos und Strecke und die Gleichbehandlung von Fahrer und Teams sind das Fundament seines Jobs. Im Klartext: "Ich achte darauf, dass sich die Piloten fair verhalten und sich jeder bedingungslos an die Regeln hält. Ich weiß aber auch, dass Teams und Fahrer in einem extrem harten Konkurrenzkampf stehen, zum Äußersten entschlossen sind." Darum findet es Charlie nur natürlich, dass alle auf der Suche nach Vorteilen sind: auf der Strecke, in der Boxengasse, durch Strategie oder Technik. Er schmunzelt: "Sie versuchen ständig, die Limits zu verschieben, das ist ihr Job. Wenn ich aber etwas finde, dann handle ich sofort, bringe sie mit aller Strenge zurück zu den Limits, das ist mein Job."
Charlies Job als Checker
Gefürchtet oder geliebt, das ist Charlie Whiting nicht völlig egal: "Ich hoffe, ein wenig von beidem!" Obwohl er nicht wirklich glaubt, dass ihn jemand liebt, so scheint es, als würde er respektiert, ja sogar Vertauen genießen. So dankt ihm die Formel 1 sein Bemühen um Fairness. Wäre es anders, würde er diesen Job nicht länger machen wollen.
Nun werden während eines Rennens immer wieder Strafen ausgesprochen, und zwar ziemlich schnell. Wie das geht? Charlie spitzt die Lippen: "Wir haben ein tolles System, das uns auf Abruf sofort alle Aufnahmen von bestimmten Streckenabschnitten und Situationen auf den Bildschirm zaubert." Das dauert keine zehn Sekunden. Glaubt Charlie, dass es etwas zu untersuchen gibt, drückt er auf "Senden", gibt damit den Fall an die Stewarts weiter. Sprich: "Under investigation!" Die Stewarts verhängen dann die Strafen. Denn: "Sie sind die Richter, nicht ich!"
Als junger Technik-Fan habe ich Leute wie Jackie Stewarts Mechaniker Roger Hill fast abgöttisch verehrt.
Charlie Whiting, FIA-Renndirektor
Charlie lebt seinen Traum. Dieser Traum beginnt 1977, als Bruder Nick relativ erfolgreich daheim in England Rennen fährt und der technikverrückte Charlie ihm beim Autoschrauben helfen darf. Schrauber-Erfahrung an einigen alten Surtees-Rennern ist dann auch der Türöffner zur Formel 1, zu einem Mechaniker-Job bei Hesketh. Bald danach der Wechsel zu Bernie Ecclestones Brabham-Team. Dort beginnt Charlies Aufstieg erst richtig: zum Chefmechaniker. Später dann, 1988, der alles entscheidende Schritt in den Dachverband – zur FIA. Kommt es da nicht zwangsläufig zu Konflikten mit Bernie? "Never ever!", winkt Charlie ab, "Bernie und ich kennen uns schon so lange, fast 40 Jahre. Sicher, er denkt oft anders als ich, aber wir beide haben keine Probleme."
Trotz Stress gab’s auch Spass
Vier Jahrzehnte aus dem Koffer zu leben, hinterlässt Spuren. Manchmal fühlt sich Charlie Whiting müde, ausgebrannt. Dann denkt er gern an die lustigen Momente zurück, an die Brabham-Zeit, mit Nelson Piquet: "Ein gefürchtet verrückter Spaßvogel!" Einmal in der Startaufstellung ruft Piquet hektisch nach Charlie: "Schau doch, da ist Flüssigkeit im Cockpit, ich glaube, das Auto hat ein Leck!" Steif und fest behauptet er, es sei Benzin, taucht energisch Charlies Hand hinein. Kein Benzin – der Brasilianer hatte ins Auto gepisst, schüttelt sich vor Lachen. Und das nicht einmal fünf Minuten vor Rennstart.