24 Stunden, 100 Jahre
Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans wird 100 Jahre alt. Rückblick auf das geilste Motorsport-Event der Welt.
Sehr spektakulär ist die D338 am westlichen Rand der 3.500-Seelen-Gemeinde Ruaudin ja nicht. Eine Route départementale eben, eine französische Landstraße. Mal rechts ein kleiner Wald und links vereinzelte Häuser. Mal links ein kleiner Wald und rechts vereinzelte Häuser.
So weit, so normal.
Zumindest beim flüchtigen Hinsehen. Beim genaueren Blick fällt dann vielleicht doch die ungewöhnlich hohe Leitplanke auf, die die Straße von Wald oder Haus trennt. Und das Netz dahinter? Mit Steinschlägen ist hier im französischen Flachland, viele hunderte Kilometer Luftlinie nordwestlich der Alpen und rund 200 Kilometer südwestlich von Paris, nicht zu rechnen.
Spätestens, wenn dann plötzlich blau-gelbe Curbs links weg von der Straße führen, rein in eine Schikane, die für den normalen Verkehr gesperrt ist, allerspätestens dann wird auch dem größten Motorsport-Muffel klar: Hier fahren Autos im Kreis um die Wette. Und weil wir hier in Le Mans sind, tun sie das einmal im Jahr ganze 24 Stunden lang.
1921 war Le Mans Austragungsort des ersten Grand Prix nach dem ersten Weltkrieg. "Jimmy Murphy (Duesenberg) legte die 517 Kilometer 860 Meter lange Strecke (30 Runden von 17 Kilometer 262 Meter) in 4 Stunden 07 Minuten 06 Sekunden zurück", schrieb damals die Allgemeine Automobil-Zeitung. Und auf diesen 17,26 Kilometern fand zwei Jahre später 1923 der "1er Grand Prix d’Endurance les 24 Heures du Mans" statt.
Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans war geboren.
Letzten Samstag und Sonntag (26. und 27. Mai) wurde in Frankreich zum erstenmal, und zwar auf der bekannten Sarthe-Rundstrecke bei Le Mans ein Vierundzwanzig-Stunden-Rennen für Automobile veranstaltet.
Wiener Sport-Tagblatt, 1. Juni 1923
Bei strömenden Regen und noch unbefestigtem Kurs kürten sich René Léonard und André Lagache auf Chenard & Walcker zu den ersten Le Mans-Siegern – Zweierteams waren viele Jahrzehnte State of the Art.
Den ersten Sieg eines Dreierteams gab es erst 1977. Es war der Höhepunkt eines Wahnsinns-Rennens: Porsche ging mit drei Fahrzeugen – einem 935 und zwei 936 – gegen Renault ins Rennen. Schon bald scheiden zwei Fahrzeuge aus, unter anderem jenes von Jacky Ickx. Die belgische Rennfahrer-Ikone stößt zum verbleibende Porsche-Werksteam (936) hinzu, das wegen des Tausches der Benzinpumpe auf Platz 41 zurückgefallen war.
Das Siegerauto 1977: Porsche 936 mit der Nummer 4.
Es folgte die, nach eigenen Aussagen, beste Performance von Ickx aller Zeiten: Die Nacht fährt er quasi durch, knallt eine Bestzeit nach der anderen auf den Asphalt. Letztendlich landen Ickx und seine Teamkollegen Jürgen Barth und Hurley Haywood – auch wegen Ausfällen von Renault – auf dem ersten Platz.
Doch weil Le Mans nun mal Le Mans ist, wurde es zum Ende hin noch einmal dramatisch. Dem Sechszylinder im 936 brennt ein Kolben durch. Zwar hat der Porsche einen satten Abstand zum Zweitplatzierten, doch muss er laut Reglement über die Ziellinie fahren und auf der letzten Runde eine gewisse Mindestzeit einhalten. Die Mannschaft schickte Jürgen Barth mit Uhr am Lenkrad ins Finale. Er bringt den Porsche 936 als "Fünfzylinder" sicher über die Distanz – und als Erster ins Ziel.
Als Fünfzylinder kämpft sich der 936 ins Ziel. Es ist der 4. Gesamtsieg – sowohl für Porsche als auch für Jacky Ickx.
Zurück in die goldenen 1920er. 1925 wurde das Rennen erstmals mit dem legendären Le-Mans-Start begonnen. Dabei mussten die Fahrer erst zur ihren Fahrzeugen sprinten und dann erst die Motoren starten. Die 1930er standen dann im Zeichen der "Great Depression". Le Mans fand – Wirtschaftskrise hin, Faschismus allerorts her – dennoch jährlich statt (Ausnahme: 1936, da wurde in Frankreich gestreikt) – bis zur 16. Ausgabe des Rennens 1939.
Zur zeitlichen Einordnung: Hitler war da seit sechs Jahren an der Macht, vor einem Jahr hatte der Anschluss Österreichs stattgefunden. Der "Völkische Beobachter", ein Kampfblatt der Nationalsozialisten, titelte: "Deutsche Motorsiege in Frankreich". Tatsächlich wurde es zwar der Klassensieg, aber nur der fünfte Gesamtrang. Keine drei Monate später überfiel NS-Deutschland Polen, der Zweite Weltkrieg brach aus.
Erst zehn Jahre später, im Jahr 1949, kehrte der Motorsport zurück, mit dem ersten Ferrari-Sieg beim 24-Stunden-Klassiker. Seitdem finden die 24 Stunden von Le Mans jedes Jahr um die Sommersonnenwende herum statt, wenn also die Nächte am kürzesten sind.
Die frühen 1950er. Die Wirtschaft wuchs. Und mit ihr die Automobilindustrie. Porsche debütierte 1951 in Le Mans mit dem 356 (1,1-Liter-Boxer), dem Vorläufer des 911. Es war die erste Teilnahme eines deutschen Herstellers nach dem Krieg. Das Jahr darauf war Mercedes wieder mit von der Partie – und fuhr mit dem 300 SL prompt einen Doppelsieg ein. Als erstes deutsches Team übrigens! In den Jahrzehnten davor dominierten Franzosen und Briten.
Die Briten dominierten mit Jaguar C- und D-Type auch die 1950er-Jahre. Und sie gewannen auch jenes Rennen 1955, das als Rennen mit dem tragischsten Motorsport-Unfall in die Geschichte eingehen sollte: Kurz vor der Boxeneinfahrt überrundet Mike Hawthorn in seinem Jaguar D-Type noch Lance Macklin, zog dann aber nach rechts, um in die Box zu fahren. Dabei bremste er stark ab – es kam zur Kettenreaktion.
Macklin zog nach links, der im Mercedes heranrasende Pierre Levegh konnte nicht mehr ausweichen, kollidierte mit Macklin und knallte in die Streckenbegrenzung. Dort zerschellte der Mercedes. Motor, Fronthaube, Vorderachse und andere Teile fetzten über die Zuschauertribüne. Inklusive Levegh sind 84 Menschen gestorben, rund 180 weitere erlitten Verletzungen.
Mercedes beendete den Einsatz der verbliebenen Rennwagen, obwohl Juan Manuel Fangio und Stirling Moss auf Platz eins lagen. Es waren für die Stuttgarter die letzten 24 Stunden von Le Mans für viele Jahrzehnte. Abgebrochen wurde das 1955er-Rennen nicht. Macklin gewann.
Persönliche Anmerkung
Ich muss Ihnen jetzt etwas gestehen. Vorhin, die Sache mit dem ersten Sieg eines Dreier-Teams 1977, das war nicht ganz korrekt. Inoffiziell nämlich gewann schon 1965 ein Dreier-Team das Rennen. Das war aber so nicht geplant. Folgendes ist passiert…
… Enzo Ferrari und Henry Ford II hatten die Gespräche zur Übernahme von Ferrari abgebrochen, Ford wollte motorsportliche Rache, zumindest 1965 war sie ihm aber noch nicht gewährt. Dafür gewann erstmals ein Österreicher den 24-Stunden-Klassiker: Jochen Rindt. Der war allerdings in der Nacht, so die Mär, einmal nicht aufzufinden, nämlich just zu dem Zeitpunkt, als Teamkollege Masten Gregory an die Box kam, weil er nichts mehr sah mit seiner Brille. Weil man Jochen jedoch nicht finden konnte und Gregory quasi blind war, steckte man kurzerhand Ed Hugus ins Rennauto – und verschwieg es. Rindt und Gregory gewannen dank des unerkannten Einsatzes. Es sollte der letzte Sieg eines Teams mit Ferrari sein.
Dann kam 1966. Und da wurde der Ford GT40 endlich zuverlässig. Schnell war er schon die Jahre zuvor. Vier weitere Jahre in Folge gewann der mittlerweile ikonische Rennwagen. Und Ferrari blieb sieglos.
Zumindest bis heute. Seit diesem Jahr starten die Italiener wieder in der Langstrecken-Weltmeisterschaft, der WEC. Zwar dominiert aktuell das Toyota Gazoo Racing Team, doch wenn sich eine Chance bietet, ist man zur Stelle. Das zeigt die Ausbeute bisher: zwei dritte sowie ein zweiter Platz bei den Sechs Stunden von Portimao. Und dass in Le Mans alles möglich ist, haben die letzten 100 Jahre mehr als einmal gezeigt.
Ferrari: Seit 2023 wieder mit dabei in der schnellsten Klasse der World Endurance Championship (WEC).
Von Modena nach Stuttgart. Wir sind zurück in den 1970er-Jahren, Porsche konnten seit dem Erstantritt 1951 viele Klassensiege feiern. Nur der ganz große Erfolg – der Gesamtsieg – blieb aus. Der Mann, der es richten wollte: Der 2019 verstorbene Ferdinand Piëch. Piëch, so sagte er es einmal selbst, gab damals das "riskanteste Auto meines Lebens" in Auftrag: den Porsche 917.
Riskant auch im fahrerischen Sinne. Der 917 soll ein "abenteuerliches" Fahrverhalten gehabt haben, wie das Dieter Quester in einem Interview einmal milde ausdrückte. Beim Debüt des Rennwagens im Jahr 1969 verstarb der Kunde John Woolfe. Der Brite war nicht angegurtet. Es sollte das letzte Rennen mit dem kultigen Le Mans-Start werden, bei dem die Fahrer zum Auto hin sprinteten und es dann noch starten mussten.
Interessanter Fakt: Der Le Mans-Start ist der Grund, warum alle Porsche (also auch die zivilen Modelle) links vom Lenkrad gestartet werden. Es erleichterte das Prozedere beim Einstieg und sparte wertvolle Sekunden.
1970 dann aber ein erfreuliches Jahr für die Stuttgarter: Hans Herrmann und Richard Attwood errangen im 917 mit der Startnummer 23 und der rot-weißen Salzburg-Lackierung den ersten Le Mans-Gesamtsieg für Porsche. Den ersten von, Stand 2022, insgesamt 19. Porsche ist der erfolgreichste Hersteller aller Zeiten in Le Mans.
1970, das war auch jenes Jahr und jenes Rennen, bei dem für den von Steve McQueen co-produzierte Filmklassiker "Le Mans" der Großteil der Szenen gedreht wurde. McQueen spielt Michael Delaney, einen Porsche-Werksfahrer, der sich im 917 mit Erich Stahler (Ferrari) misst. Mehr sagen wir jetzt nicht, weil: Spoiler.
1971 konnte der weiterentwickelte Porsche 917 seinen Erfolg wiederholen. Diesmal am Steuer: Gijs van Lennep und Helmut Marko – nach Rindt der zweite Österreicher, der den Gesamtsieg in Le Mans errang.
Danach war die Porsche-Party zu Ende. Der Hubraum wurde auf drei Liter limitiert, weil der 917er (und die Konkurrenz Ferrari 512) mit seinem Zwölfzylinder wohl zu wild war.
Richtig lang war Porsche aber nicht weg vom Fenster. Nach einem dreijährigem Matra-Intermezzo und dem Sieg des Gulf GR8 1975 (ja, der mit der legendären himmelblau-orangen Lackierung), feierte man in Stuttgart schon 1976 den nächsten Gesamtsieg – Jacky Ickx, Gijs van Lennep und der Porsche 936 sorgten für den Triumph.
Und dann ging's erst so richtig los. Die 1980er-Jahre waren in Le Mans wahre Porsche-Festspiele. Es war die Zeit des legendären Gruppe-C-Reglements. Und für dieses konstruierte Porsche den 956 und später den 962. Am humorvollsten veranschaulicht wohl ein Plakat aus Stuttgart selbst die Dominanz. Zu sehen: Die Ergebnisse des 1983er-Rennens, neun Porsche in den Top 10. Nur ein Sauber-BMW sprengte auf Platz neun liegend die Formation. In dicken Buchstaben stand über dem Resultat: "Nobody's perfect."
Übrigens: Auch der 2020 verstorbene Walter Lechner bestritt im Porsche diverse Rennen und Serien, darunter auch Le Mans. In seinem Fahrzeug verliebte sich auch der (nach Rindt und Marko) dritte österreichische Le Mans-Gesamtsieger (1996, 2009) Alexander Wurz in den Sport. Bei einer Motorshow, so erzählt es der heutige Berater des Toyota-WEC-Teams, hat Walter Lechner ihn in das Auto gesetzt und um Wurz war es geschehen. "Wennst die Tür zumachst, dann bist du in dieser Kapsel drinnen und du weißt, mit dieser Kapsel reist du durch das Leben und durch die Zeitgeschichte mit 350 km/h."
Wennst die Tür zumachst, dann bist du in dieser Kapsel drinnen und du weißt, mit dieser Kapsel reist du durch das Leben und durch die Zeitgeschichte mit 350 km/h.
Alexander Wurz, zweifacher Le Mans-Sieger
Was Wurz nicht minder am 24-Stunden-Rennen begeistert: die Technologie. "Le Mans ist ein Prüfstein", erzählt er. Und weiter: "Als ich zurückgekommen bin, haben Audi und Peugeot gezeigt, dass ein Diesel ein äußerst sportliches Auto sein kann." 2006 war das, als Audi mit dem R10 TDI erstmals ein Dieselfahrzeug in Le Mans gewann. "Natürlich ist dann Dieselgate gekommen. Aber schon davor gab's die nächste Technologie: Hybrid."
Wir sehr Prüfstein Le Mans ist, wie unterschiedlich die technologischen Ansätze sein können, das zeigte auch der Mazda 787B. Mit seinem Wankelmotor katapultierte er sich in die Herzen der Fans. 1991 gewannen die Japaner damit das Rennen.
Zwei Jahre zuvor, 1989, gewann ebenfalls ein legendäres Fahrzeug das 24-Stunden-Rennen: der Sauber-Mercedes C9. Die Stuttgarter waren also wieder zurück. Richtig erfreulich wurde es für sie aber nicht. Ganz im Gegenteil: Die Bilder der bei voller Fahrt wie Flugzeuge abhebende Rennwagen (Modell CLR) gingen 1999 um die Welt.
2003 gewann noch einmal Bentley – rund 70 Jahre nach deren letzten Sieg. Danach: Audi Dominanz (wie vorhin angesprochen auch mit Selbstzünder), Porsche-Dominanz, Toyota-Dominanz. Und trotzdem unvergessliche Dramen, etwa 2016, als Toyota nach rund 23 Stunden und 57 Minuten in Führung liegend ausfiel – und Porsche gewann.
Und 2023?
Was erwartet uns beim großen Jubiläum, beim 91. 24-Stunden-Rennen von Le Mans am 10. und 11. Juni? Ein fettes Markenfeld in der Hypercar-Gruppe jedenfalls, der neuen Top-Klasse. Cadillac ist dabei, Ferrari, Porsche, natürlich das bis dato saison-dominierende Toyota-Team. Und Peugeot, die nach ihrem letzen Sieg 2009 mit Alex Wurz wieder daheim triumphieren wollen. Gelingt es, werden die Franzosen das erste Auto seit 1971 gebaut haben, das ohne Heckflügel in Le Mans gewinnt.
Sogar ein Nascar-Bolide aus Übersee wird antreten, in der Innovationsklasse. Am Steuer: Formel-1-Weltmeister Jenson Button.
Stichwort innovativ: Nach Diesel und biogenem Sprit, nach Hybrid und Wankelmotor, kommt noch in diesem Jahrzehnt das nächste "big thing" nach Le Mans: Wasserstoff. So schön die Reise durch die Vergangenheit auch war: Die Zukunft wird mindestens ebenso gut.
Und 2023?