Nürburgring: Mekka des Motorsports
Draußen knallen Thomas Preining und seine Konkurrenten in Rennwagen über die Start-Ziel-Gerade. Drinnen planen Schüler:innen des Gymnasiums Adenau ihren Abschlussball. Willkommen am Nürburgring.
Der Links-Knick, der Niki Lauda vor bald 50 Jahren beinahe das Leben kostete, geht voll. Gebremst wird erst vorm "Bergwerk": Eine lange und immer enger werdende Rechtskurve, benannt nach einem ehemaligen Bei- und Silberbergwerk in der Nähe.
Der Ausgang ist vor allem mit brustschwachen Autos superwichtig, weil's danach ordentlich bergauf geht. Und man fast zwei Kilometer am Gas bleiben kann. Bis zur Mutkurve. Die heißt so, weil man eigentlich immer das Gefühl hat, man hätte sie noch ein wenig schneller nehmen können. Noch etwas mutiger.
Der Streckenabschnitt rund ums Caracciola-Karussell. Die Mutkurve am oberen Bildrand lässt sich am Talverlauf erahnen.
Diesmal habe ich dieses Gefühl nicht, im Gegenteil: Zu rabiat nehme ich den hohen Curb, die Hinterachse bricht weg. Ich überkorrigiere – und knalle im Gegenpendler gegen die Leitplanke. Es rüttelt mich wild herum, dann friert das Bild ein.
"Bei krassen Unfällen kann das schon einmal passieren, das schnelle Gedrehe ist dann zu viel für die Software und alles stürzt ab", sagt der Mitarbeiter der eSports Bar – und startet das Spiel neu. Ein Luxus, den ich morgen im Monoposto nicht haben werde.
Mythos Nordschleife
Der Nürburgring in der Eifel. Die grüne Hölle, wie sie Sir Jackie Stewart in den späten 1960er-Jahren taufte. Mekka vieler Motorsport-Enthusiast:innen, Disneyland für Leute mit Benzin im Blut. Ein Ort, an dem Geschichte geschrieben und an dem Menschen zu Held:innen wurden.
auto touring-Redakteur Maximilian Barcelli zu Besuch auf der Nordschleife.
Weil sie zu schwer waren und deshalb die Lackierung über Nacht abgekratzt wurde, bekamen die Mercedes-Rennwagen hier 1934 ihren Spitznamen "Silberpfeile" verpasst. Hier verewigte sich Stefan Bellof 1983 mit einem Rundenrekord (6:11,13 Minuten), der 35 Jahre lang Bestand haben sollte. Und hier entging Niki Lauda 1976, beim letzten Formel-1-Rennen auf der Nordschleife, knapp dem Feuertod.
Im Motorsport-Museum des Nürburgrings wird die Historie der Strecke durch Ausstellungsbereiche, die sich Sportler:innen und Rennautos widmen, erlebbar.
Eröffnet wurde der Nürburgring 1927, damals noch bestehend als Nord- und Südschleife. Letztere wurde beim Bau der modernen Grand-Prix-Strecke aufgegeben, die Nordschleife aber blieb. 20,832 Kilometer lang ist sie, nach offizieller Zählweise mit 73 Kurven bestückt. Im Infield leben Menschen in mehreren Ortschaften.
Wirtschaftsmotor der Region
Die Atmosphäre ist einzigartig. Immer wieder blitzt das mit Graffitis vollgesprayte Asphaltband durch die Wälder. Einfamilienhäuser, in deren Einfahrten verhältnismäßig häufig Sportwagen stehen, reihen sich aneinander. Daneben: Schilder mit der Aufschrift "Autoverleih". Die Menschen leben neben der Strecke – und oft auch von ihr.
Das gilt im Kleinen genauso wie im Großen: Von privaten Autovermietern über Hotels und Restaurants bis hin zu den rund 200 Angestellten des Nürburgrings selbst – die Rennstrecke ist Wirtschaftsmotor der Region. Und klar: Auch die Automobilindustrie ist hier vertreten. Hersteller wie Jaguar Land Rover und Aston Martin, Sportabteilungen von Autobauern wie BMW M, Mercedes-AMG und Hyundai N sowie Zulieferer wie Öhlins und Bilstein haben hier Niederlassungen.
Sie stimmen ab, testen – und schicken ihr Endprodukt auf Rekordjagd. Was in Österreich das AMA-Gütesiegel fürs Rindfleisch ist, ist der Nordschleifen-Rekord fürs Auto. Ein Ritterschlag, pures Marketinggold für den Hersteller.
So pur, dass manche immer "kreativere" Kategorien der Rekord-Liste hinzufügten oder sogar bei Fahrdaten und Videos tricksten. Was den Nürburgring wiederum dazu bewegte, die Rekorde samt notarieller Beglaubigung selbst in die Hand zu nehmen.
Aufgestellte Nordschleifen-Rekorde
Aktueller Rekord übrigens: 5:19,55 Minuten, 2018 aufgestellt von Timo Bernhard in einem hochgezüchteten Le Mans-Porsche. Ein Mock-up des Rennwagens steht im "Ring-Werk", dem Motorsportmuseum der Strecke. Das Onboard-Video der Rekordfahrt veranschaulicht ganz gut, warum Nordschleife und moderne Formel 1 nicht zusammengehen. Zu schnell, zu lange, zu bumpy, zu extrem.
Formel-1-Rückkehr am Nürburgring
Wobei: Zumindest zu Showzwecken kehrte die Königsklasse vor kurzem an die Nordschleife zurück. Bei Red Bull Formula Nürburgring am 9. September 2023 pilotierte der vierfache F1-Weltmeister Sebastian Vettel seinen RB7 aus der Saison 2011 durch die grüne Hölle – flankiert von David Coulthard im RB8. Und Matthias Lauda fuhr mit dem Ferrari 312 B3-74 seines Vaters über die Nordschleife. 60.000 Menschen gaben sich dieses Spektakel.
Komplettiert wurde das Wochenende durch das 12-Stunden-Rennen vom Nürburgring. Denn aktiv renngefahren wird auf der Nordschleife freilich auch noch.
Thomas Preining
Wenn Thomas Preining zu ambitioniert in die Mutkurve sticht, kann er nicht einfach neu starten. Der Rennfahrer aus Oberösterreich gewann letztes Jahr das DTM-Rennen in Spielberg, aktuell liegt er mit 164 Punkten in der Fahrerwertung der Serie auf Rang zwei.
Mit seinem Team Manthey-Racing fährt Preining allerdings nicht nur in der DTM, seinen "Grello" genannten 911 GT3 R pilotiert er im Zuge der NLS, der Nürburgring Langstreckenserie, auch regelmäßig über den Nürburgring. Er kennt die Nordschleife also verdammt gut.
Die größte Herausforderung ist das Mentale. Auf der Nordschleife gibt es keinen Raum für Fehler.
Thomas Preining, Rennfahrer
Die größte Herausforderung, erzählt Preining, sei es, immer "full focused" zu sein, das Mentale also. Und das heile Vorbeikommen an Fahrzeugen unterer Klassen: "Ich überhole im GT3-Porsche einen Opel Manta." Beim Rennfahren bleibt wenig Raum für Fehler. Beim Rennfahren auf der Nordschleife "gar keiner".
Nürburgring Touristenfahrten
Im sehr viel schnelleren Auto ein sehr viel langsameres überholen oder umgekehrt: Das erleben nicht nur die Profis am Nürburgring. Bei den Touristenfahrten können jeder und jede mit gültigem Führerschein und einem straßenzugelassenen Fahrzeug die Nordschleife selbst erfahren.
Das findet vor allem in der digitalen Welt anklang: Onboard-Clips und Compilation-Videos, die Titel wie "Best of Crashes" oder "Best of Supercars" tragen, werden im Netz millionenfach geklickt. Eine Kurve im Streckenabschnitt Adenauer Forst trägt sogar inoffiziell den Namen "YouTube Corner": Hier fliegen ganz besonders häufig Autos ab.
Meistens ohne Konsequenz, anders als an so ziemlich jeder anderen Stelle der Nordschleife gibt es hier nämlich üppige Auslaufzonen. Und selbst wenn des kracht, absorbieren die Leitplanken meist verlässlich die Kraft. Gefährlich wird's erst danach, wenn Autos und Abschleppwagen auf der Strecke stehen. Folgeunfälle also.
BMW, Porsche, Suzuki: Bei den Touristenfahrten kann jede:r die Nordschleife selbst erleben.
Deshalb nehmen die Betreiber des Nürburgrings elf Millionen Euro in die Hand und digitalisieren die Strecke bis 2025.
Strom- und Glasfaserkabel werden verlegt, Kameras montiert und LED-Panels installiert. Eine künstliche Intelligenz wird "außerplanmäßige Ereignisse" erkennen, also Unfälle und Dreher, und in Sekundenschnelle die Einsatzzentrale informieren. Die Mitarbeiter:innen dort können dann anhand der Kamerabilder Maßnahmen setzen und gegebenenfalls via LED-Panels warnen.
Ein Restrisiko allerdings wird auf einer Rennstrecke immer bleiben, wie der tödliche Unfall zweier Mitarbeiter des Reifenherstellers Goodyear bei Testfahrten im August 2023 zeigte.
Nürburgring: Mehr als "nur" Rennstrecke
Viele der 1,3 Millionen Besucher:innen, die der Nürburgring 2022 begrüßen durfte, kamen allerdings gar nicht, um über die Rennstrecke zu rasen oder anderen beim Über-die-Strecke-Rasen zuzuschauen. Neben Motorsport-Mekka ist der Nürburgring vor allem auch Kongress- und Messezentrum. Und natürlich: Partyplace. So pilgerten 70.000 Menschen Anfang Juni in die Eifel, um bei Rock am Ring zu den Songs von den Toten Hosen oder Foo Fighters ordentlich headzubangen.
In der "Ring-Arena", einer Mehrzweckhalle mit Platz für bis zu 4.500 Menschen, schwärmt der Pressesprecher des Rings, Alexander Gerhard, von der genialen Stimmung, die hier Mitte März herrschte, als die Dart-Elite beim "Dart am Ring" aufeinandertraf.
Wir gehen mit Gerhard durch die nächste Tür, kommen in einen Saal voller schön dekorierter, runder Tische. An einem davon sitzen Jugendliche zusammen. Sie plaudern, sie blödeln, vor allem aber planen sie. Sie seien Schüler:innen des Adenauer Gymnasiums, erzählen sie. Morgen finde ihr Abschlussball statt – hier, am Nürburgring.
Formel-4-Fahren am Nürburgring
"Ihr braucht nicht zu glauben, so einen Monoposto wieder einfangen zu können. Rutscht das Heck, ist er weg." Wie ein Damoklesschwert schwebt dieser Satz über mir, mit dem sich der Instruktor noch vor einer halben Stunde in einem trockenen Seminarraum mahnend an die angehenden Formel-4-Pilot:innen wandte. Gestern noch virtuell, sitze ich jetzt tief im echten Monoposto. Der Regen tropft auf meinen Helm, die Strecke ist klatschnass.
"Links Bremse, rechts Gas. Und bitte versuch' nix hin zu machen."
160 PS auf die Hinterachse bei einem Leergewicht von unter 500 Kilogramm. Kein ABS, kein ESP und auch sonst keine elektronische Sicherheitssysteme – die ersten Fahrmeter erfolgen dementsprechend mit äußerster Vorsicht.
Das Feeling ist trotzdem spektakulär: Extrem tief fliege ich über den Asphalt. Die Gischt ist dafür umso höher. Den vorausfahrenden Instruktor erkennt man eigentlich nur durch das rot-blinkende Licht am Heck, das sich durchs aufschäumende Wasser zu meiner Netzhaut kämpft. Richtig hohe Kurvengeschwindigkeiten kommen bei solchen Bedingungen nicht auf, zumindest nicht mit mir am Steuer. Dafür fühle ich mich ein bisserl wie Max Verstappen in Brasilien 2016.
Anders als der Niederländer hält die neugewonnene Selbstsicherheit nur für eine halbe Runde. Beim Anbremsen auf die Goodyear-Kehre passiert's dann nämlich: Das rechte Vorderrad blockiert massiv und auf Lenkbefehle reagiert das Rennauto freilich auch nicht mehr. Das Heck des Instruktorenfahrzeuges kommt unangenehm nahe, vor meinem geistigen Auge sehe ich mich schon darin picken.
Mein Schicksal bereits angenommen, spüre ich den Formel-4-Wagen nach einer gefühlten Ewigkeit dann doch noch reagieren und mit einem Puls, bei dem es jedem Internisten die Haare aufstellt, fahre ich die Runde zu Ende. Der Fahrer hinter mir hat etwas später weniger Glück: Beim Herausbeschleunigen rutscht ihm das Heck weg und er dreht sich ins Kiesbett. Red Flag.
Ein paar Tage später. Ich habe ich das Cockpit wieder gegen den Bürosessel getauscht, als eine Nachricht am Bildschirm aufpoppt: Die Onboard-Videos sind da. Schon beginnt das Kopfkino: Welch gnadenlosen Kampf zwischen Mensch und Maschine ich wohl gleich zu sehen bekomme? Ob das Abfangen des Verbremsers auch so spektakulär und hochprofessionell aussieht, wie es sich angefühlt hat? Kleiner Spoiler: Natürlich nicht.