Racing in der Matrix
Eine Motorsport-Art ist immun gegen Corona: virtuelle Rennen. Und ein ÖAMTC-Pannenfahrer ist privat dabei. Er fährt daheim gegen Formel-1-Stars wie Max Verstappen – und bekommt Tipps von Michael Schumacher. Eine Reportage von Sven Haidinger.
Manuel Waldbauer sitzt in seinem Schalensitz, festgezurrt im Sechspunktgurt. Er drückt den Startknopf. Der Motor heult auf, Leuchtdioden im Cockpit blinken. Der 25-Jährige fährt aus der Box, rumpelt über die Curbs. Das mit unzähligen Knöpfen ausgestattete Lenkrad wird unruhig, Waldbauer muss heftig gegenlenken, um sein widerspenstiges Biest zu kontrollieren.
Der Obersteirer aus Aigen im Ennstal, im echten Leben ÖAMTC-Pannenfahrer, ist leidenschaftlicher Sim-Racer. Täglich verbringt er bis zu vier Stunden in seinem 15.000 Euro teuren virtuellen Boliden, der den Keller des Einfamilienhauses nie verlassen wird – und trifft dabei in Online-Rennen auf Kult-Rennstrecken wie der Nürburgring-Nordschleife auf echte Formel-1-Piloten wie Max Verstappen oder Lando Norris.
Mein Lenkrad hat zehn Knöpfe pro Seite und 64 verschiedene Einstellungsmöglichkeiten. Es gibt wohl kaum jemanden, der so einen ,Klescher‘ hat wie ich.
Manuel Waldbauer, Sim-Racer und ÖAMTC-Pannenfahrer
Sim-Racing?
"Ich habe vor einem Jahr alle meine Hobbys dafür aufgegeben", erzählt Motorsport-Fan Waldbauer, der davor Modell-Hubschrauber gebaut hat und den Gesinnungswechsel jetzt so erklärt: "Jeder Absturz geht da wahnsinnig ins Geld und kann wegen der Carbon-Rotorblätter auch gefährlich sein. Ein Kollege hat dadurch sogar ein Auge verloren. Seitdem tüftle ich lieber an meinem Rennsimulator."
Damit ist Manuel Waldbauer nicht alleine. Das sogenannte Sim-Racing erlebt durch die Corona-Krise derzeit einen regelrechten Boom. Zahlreiche echte Rennfahrer legen sich Rennsimulatoren zu und sogar die Formel 1 trägt ihre Grands Prix vorübergehend online aus. Die Szene, die sich lange in einer Parallelwelt abspielte, rückt plötzlich ins Scheinwerferlicht.
Ein Beispiel? Für Ferrari-Supertalent Charles Leclerc (hier unlängst im auto-touring-Exklusivinterview) sah der etwas andere Saisonstart 2020 in Melbourne so aus…
Und Manuel Waldbauer?
Vorweg: Der Gelbe Engel rast natürlich nur, wenn's notwendig ist – zu den ÖAMTC-Mitgliedern nämlich. Aber wenn er nach einer anstrengenden Schicht heimkommt, wartet sein Renn-Simulator auf ihn…
Was meint der Profi dazu?
Philipp Eng, DTM-Ass und Sim-Racing-Pionier, findet das Thema schon länger spannend: Der österreichische BMW-Werksfahrer erlag schon vor über zehn Jahren der virtuellen Vollgas-Droge. "Ich war 17, und mein Simulator sah damals so aus, dass ich meine Schulhefte zur Seite geräumt und mein Lenkrad am Schreibtisch festgeklemmt habe", lacht er. "Die Pedale habe ich am Fußboden mit Tape befestigt."
Heute nutzt der 30-Jährige in seiner Mietwohnung in Mondsee einen 10.000 Euro teuren Profi-Simulator, um sich auf seine realen Rennen vorzubereiten. Und bemerkt, dass immer mehr Kollegen auf den Zug aufspringen: "Das ist brutal! Mir schreiben so viele Leute aus dem Profi-Rennsport, dass sie einen Simulator haben wollen. Klar, es ist ja auch die einzige Möglichkeit derzeit, Motorsport zu betreiben."
Die besten Sim-Racer haben das technische Verständnis und fahrerische Potenzial. Aber in einem echten Rennauto müssten sie erst einmal damit umgehen lernen, dass ihnen im echten Leben wirklich etwas passieren kann.
Philipp Eng, DTM-Sieger und Sim-Racer
Home Office: eine Minute mit Philipp Eng
Das Sim-Racing-Virus…
… verbreitet sich in Zeiten von Corona momentan also rapide. "Das ist Fluch und Segen zugleich", sagt Manuel Waldbauer, Mitglied des österreichischen Teams Austrian Simracers. "Es werden zwar viele Leute aufmerksam und probieren Sim-Racing aus, aber manche fahren noch mit Tastatur und glauben, es handelt sich um ein simples Computerspiel."
Eine krasse Fehleinschätzung, denn die Plattform iRacing, die derzeit die Referenz im Sim-Racing ist, bietet einen nie da gewesenen Realismus: Jede Rennstrecke wurde von den Entwicklern einem 3D-Laserscan unterzogen, weshalb jede reale Bodenwelle auch am Bildschirm genau an ihrem geografisch richtigen Platz ist. Allein die Erstellung eines Fahrphysik-Modells der einzelnen Autos dauert ganze zwei Jahre.
"Für jedes Auto und jede Strecke, die man kauft, zahlt man zwölf bis 15 Euro", erzählt Waldbauer. "Dazu kommen noch 110 Euro pro Jahr, um iRacing überhaupt nutzen zu dürfen."
iRacing ist somit die teuerste Rennsimulation der Welt. "Wenn man aber einmal gefahren ist, dann gibt man das Geld gerne aus", schwärmt Manuel. "Es ist einfach das Nonplusultra."
Zukunft des Rennsports?
Mit seiner Meinung ist Manuel nicht alleine: Beim virtuellen 24-Stunden-Rennen von Daytona waren über 6.000 Gamer gleichzeitig am iRacing-Server. Darunter auch Formel-1-Star Max Verstappen, der Teil des führenden Sim-Racing-Teams Redline ist und unlängst sogar auf Podest-Kurs war, ehe seine Internetverbindung abriss – der klassische Technik-Ausfall der Sim-Racer-Generation.
Aber hat durch iRacing nun jeder die Möglichkeit, sich im eigenen Wohnzimmer mit dem Red-Bull-Superstar Verstappen zu messen? Nicht ganz. Dafür sorgt nämlich das Ranking-System, das iRacing von anderen Rennsimulationen wie RFactor2 oder Assetto Corsa unterscheidet.
Als Einsteiger fährt man in schwächeren Autos zuerst gegen Gegner auf ähnlichem Niveau und muss sich Punkte erarbeiten, die das sogenannte iRating verbessern. "Du wirst nach Können und Fairplay eingeteilt", erklärt Waldbauer. "Wenn man etwa die Strecke abkürzt oder andere Fahrer abdrängt, erhält man Minuspunkte. Rowdys haben dadurch keine Chance."
"Das System kann aber auch unfair sein", verweist er darauf, dass bei einer Berührung beide Piloten Minuspunkte erhalten. "Denn woher soll die Simulation wissen, wer die Berührung verursacht hat?"
Im schlimmsten Fall ist es dennoch möglich, eine Rennleitung aus realen Menschen einzuschalten. "Es gibt tatsächlich eine eigene Abteilung, die sich nur um den Sporting Conduct (sportlicher Verhaltenskodex, Anm. d. Red.) kümmert", erklärt Profi Philipp Eng. "Wenn ich der Meinung bin, dass mir der andere mit Absicht ins Auto gefahren ist, dann könnte ich einen Protest schreiben, das Video-Replay anfügen und dann entscheiden die, ob das durchgeht oder nicht." Ein Vorgang übrigens, der bis zum Lizenzentzug führen kann.
Damit können die im Moment nur virtuell durchgeführten Formel-1-Rennen nicht mithalten. Denn als Plattform dient da das offizielle Formel-1-Computerspiel F1 2019 für den Mainstream, dessen Verkaufszahlen die Formel-1-Macher von Liberty Media steigern wollen. "Ich will nicht zu hart in meinem Urteil sein, aber das ist keine Simulation wie iRacing oder RFactor2, sondern halt ein Spiel für die breite Masse", sagt Eng, der weiß, wovon er spricht: Von Red Bull Racing für die virtuelle Bahrain-Premiere engagiert, fuhr er auf der Plattform "F1 2019" nach der Pole-Position auf den starken dritten Platz.
All das ist…
… freilich längst nicht mehr allein Manuel Waldbauers kleine Motorsport-Welt, die sich ihm und Philipp Eng einst mit Billig-Lenkrad und Playstation-Spiel eröffnet hat. "Es gibt heute immer irgendwas, das man noch optimieren kann. Und es gibt kaum jemanden, der so einen 'Klescher' hat wie ich", muss er angesichts seines ausufernden Hobbys selber lachen. Eine Schlüsselrolle dabei spielte übrigens ein berühmter Name: Michael Schumacher.
Der Formel-1-Rekordweltmeister? Nein. Als sich Waldbauer seinen Simulator zusammenstellte, lernte er einen deutschen Sim-Racer aus der Eifel kennen, der kurioserweise den gleichen Namen wie die berühmte Motorsport-Legende trägt. "Er hat mich beraten, ist unglaublich detailverliebt und so ein Vorbild für mich geworden", sagt Manuel.
Wie sein ganz persönliches Schumacher-Idol sucht auch Waldbauer den ultimativen Realismus. "Ich verwende Gurte, obwohl das für Sim-Racing eigentlich keinen Sinn ergibt. Mein Lenkrad hat heute zehn Knöpfe pro Seite und 64 verschiedene Einstellungsmöglichkeiten. Außerdem ist alles mit echtem Carbon verbaut."
Doch nicht nur das: Er setzt auch auf eine direkte Lenkung, die von einem leistungsstarken Motor angetrieben wird und beim Überfahren eines Hindernisses tatsächlich derart ruckartig ausschlägt, dass ihm schon Prellungen passiert sind. "Wenn ich bei einem Unfall das Lenkrad nicht auslasse, kann das im schlimmsten Fall durchaus dazu führen, dass ich mir beim Fahren den Daumen breche."
Die Technik
Die Sitzposition (siehe Foto oben) ist exakt wie in einem GT3-Auto, Manuels Hydraulik-Bremse ist auf einen Bremsdruck von 100 Kilo ausgelegt. "Als ich es einmal mit einer normalen Simulator-Bremse probiert habe, war sie auf den ersten Tritt kaputt", grinst er. Mit seinem Setup sei man zwar nicht der Schnellste, dafür fühle man sich – abgesehen von den fehlenden Fliehkräften – wie ein echter Rennfahrer und ist ganz nahe an der Realität.
Aber warum investiert er, der ÖAMTC-Pannenfahrer, der durch seinen Job so viel Fahrpraxis hat, denn nicht in einen echten Rennwagen? "Den hast du nur einmal, bis er durch einen blöden Fehler kaputt ist", antwortet er. Und: "Auch der Faktor Angst spielt natürlich eine Rolle."
Manuel Waldbauer ist nicht nur bei seinen Einsätzen für den ÖAMTC und als Sanitäter immer wieder mit schweren Unfällen konfrontiert, sondern hat auch selbst bereits großes Glück gehabt. "Ich bin vor fünf Jahren auf dem Weg von der Arbeit nach Hause von der Landstraße abgekommen, habe mich mehrmals überschlagen und dabei noch einen Baum erwischt." Das Auto war ein Totalschaden, er selbst blieb glücklicherweise so gut wie unverletzt. "Viele glauben nach dem Führerschein leider, sie wären plötzlich Rennfahrer", hat er aus dieser Erfahrung gelernt. "Aber ohne Sicherheitsgurt wäre ich nicht mehr am Leben."
Der Faktor Angst ist es auch, der dafür sorgt, dass ein guter Sim-Racer nicht unbedingt ein guter Rennfahrer ist. "Was die Rennlinie angeht, könnten viele Sim-Racer wohl auch in einem echten Rennauto nach ein paar Runden Übung ein bissl mithalten", vermutet Waldbauer.
Echte und virtuelle Angst
"Die besten virtuellen Racer haben bestimmt das nötige technische Verständnis und das fahrerische Potenzial, aber ich denke, in einem echten Rennauto müssen sie erst einmal damit umgehen lernen, dass ihnen da wirklich etwas Schlimmes passieren kann, wenn sie einen Fehler machen", sagt Philipp Eng dazu. "Ich merke das ja sogar an mir selbst. Im Simulator riskiere ich immer mehr als im echten Rennauto."
Was lässt sich ableiten?
Ein paar wenige haben den Schritt vom Online-Racer zum erfolgreichen Rennfahrer geschafft. Norbert Michelisz zum Beispiel, der von einem echten Rennfahrer entdeckt wurde, weil er diesem beim PC-Rennspiel GP Legends um die Ohren gefahren war. Im Vorjahr holte der Ungar den WTCR-Titel.
Und auch der Waliser Jann Mardenborough, der 2013 bei den 24 Stunden von Le Mans Dritter in der LMP2-Klasse wurde, fuhr bis 2011 nie echte Autorennen. Er hatte sich stattdessen in Nissans GT-Academy in einem Casting gegen 90.000 andere Computer-Kids durchgesetzt.
Trotz dieser zwei beispielhaften Erfolgsgeschichten findet es Eng "schade, dass es nicht mehr Leute ins wirkliche Rennauto schaffen. Denn wenn ein 30-Jähriger, der seit fünf Jahren Sim-Racing betreibt, mindestens so gut fährt wie ich, dann stelle ich mir schon oft die Frage, was passiert wäre, wenn der vor 15 oder 20 Jahren angefangen hätte."
Liebe Leserinnen und Leser, zum Abschluss dieser Geschichte wollen wir Ihren Puls noch einmal hochtreiben. Begleiten Sie Philipp Eng doch mal während eines kompletten echten DTM-Rennens – von der Startaufstellung bis zur karierten Flagge. Also in jener Zeitspanne eines Rennfahrers, in der Fehler schlicht keine Option sind – weil es nicht ihr virtuelles Leben, sondern das reale ist.