Targa Florio: Sonne, Speed & schöne Schuhe
Der Rennklassiker Targa Florio feiert vom 5. bis 8. Mai – "molto spettacolare" – seinen Hunderter. Ganz im Zeichen einer vergangenen, gloriosen Zeit, als noch die weltbesten Piloten in den schnellsten Sportwagen über Siziliens Straßen rasten, begleitet vom frenetischen Jubel begeisterter Menschenmassen.
Die Targa Florio ist und war immer ein waghalsiges, gefährliches Abenteuer. Erfunden von Graf Vincenzo Florio in den Anfängen des vorigen Jahrhunderts und nebenbei ist sie auch das älteste Autorennen der Welt. Älter noch als die berühmten 500 Meilen von Indianapolis. Der erste Kurs ist eine viel zu lange 148-Kilometer-Runde auf öffentlichen Straßen durch Sizilien, mehr Inselrundfahrt als Rennen.
Die erste Startflagge fällt am 6. Mai 1906, vor 110 Jahren, denn zehn Mal gab es keine Targa Florio. Zehn Rennwagen brausen im 10-Minuten-Takt los. Der Sieger, Allessandro Cagno auf Italia, braucht für drei Runden 9 Stunden und 32 Minuten. In den Folgejahren wird die Strecke nach und nach bis auf die legendären 72 Kilometer verkürzt: führt nun durch das Hinterland von Cefalu, die "Piccola Madonie".
Gestartet wird in Cerda, wo heute die Tristesse der heruntergekommenen historischen Boxen und Tribünen an längst vergangene Speedtage erinnert. Auch der Asphalt der Strecke war früher in besserem Zustand. Der Kurs ist grandios, für die Fahrer aber extrem fordernd: 1.000 Höhenmeter, 900 Kurven, Bergstraßen, Spitzkehren, enge Dorfdurchfahrten, schroffer Fels. Und fanatische Menschenmassen, die die Autos im Vorbeifahren zu berühren versuchen. Einige ganz Verrückte liegen am Boden, greifen nach den Reifen. Einzig die lange Buonfornello-Gerade am Meer – länger als die Mulsanne in Le Mans – bietet Zeit zum Verschnaufen, trotz Tempo 300 und voll ausgedrehtem fünften Gang.
Targa Florio 1972, kommentiert von Vic Elford
Obwohl die Trainingsläufe im Alltagsverkehr stattfinden, haben die Dorfgemeinschaften strikte Anweisung, während des Rennens Kinder und Haustiere einzuschließen. Trotzdem können die Piloten nie sicher sein, ob nicht hinter der nächsten Ecke Hunde, Hendln oder gar Eselskarren auftauchen. Auch verlorene Hufnägel sind eine ständige Gefahr für Mensch und Maschine.
Held und Idol der Sizilianer ist ein Schuldirektor aus Palermo: Nino Vaccarella. Der Le-Mans-Sieger und dreifache Gewinner der Targa Florio ist kein Profirennfahrer und muss sich für wichtige Rennen immer Urlaub nehmen. Bis heute meint er mit bedauerndem Unterton, dass, hätte er doch nur etwas mehr "Fortuna" gehabt, er sein Heimrennen mindestens fünfmal gewonnen hätte. Sein Stil ist lässig: eine Hand immer am Schaltknüppel. Tausende Gangwechsel und ein kaum zu bändigendes Lenkrad verursachen blutende Handflächen. "Nino Nazionale" erinnert sich: "Unsere Freundinnen und Frauen versorgten die Wunden an der Box mit Mullbinden."
Volksheld Nino Vaccarella
Die Targa Florio hatte längst WM-Status, als in den frühen 1970er-Jahren die Kraftprotze der Sportwagenwelt auftauchen, mit 500 PS und mehr. Alfa Romeo T33/3, Ferrari 512 und die Porsche, allen voran der Eyecatcher 908. Die Schnellsten bewältigen die Strecke in weniger als 40 Minuten. Legendär der Rundenrekord des heutigen Red-Bull-Motosportchefs Dr. Helmut Marko aus dem Jahr 1972 auf Alfa. Die Fabelzeit von 33 Minuten und 41 Sekunden bedeutet einen Schnitt von mehr als 128 km/h und wird bis zur Einstellung des Rennens 1977 nie mehr unterboten. Trotzdem reicht es nur für den zweiten Platz. Marko sagt beim Abendessen nach dem Rennen, dass irgend etwas in ihm "Klick" gemacht habe, von dem Moment an sei er wie ein Besessener gefahren.
Das Starterfeld der Targa Florio ist immer hochkarätig, quasi das "Who is who" des Motorsports: In den 1930ern ist Tazio Nuvolari der Star, später folgen Stirling Moss, Joakim Bonnier, Hans Herrmann samt Busenfreund Juan Manuel Fangio, Graf Berghe von Trips, Lorenzo Bandini. Und in den 1970ern Toine Hezemans, Clay Regazzoni, Jo Siffert, Rolf Stommelen, Sandro Munari und Jacky Ickx und last but not least Arturo Merzario, der Lebensretter Niki Laudas.
Aber all die Stars kommen nicht allein wegen des Rennes oder gar der WM-Punkte. Sie kommen, weil es in Cefalu einen "Calzolaio" gibt, einen Schuster, der zu dieser Zeit die besten Rennfahrerschuhe produziert – Francesco Liberto, vulgo Ciccio. Das Geschäft des Motorsport-verliebten Sizilianers, direkt an der Uferpromende dem Lungo Mare von Cefalu, ist heute eine Hall of Fame der Targa Florio. Voll mit Bildern und Widmungen von Rennfahrergrößen, an deren Füßen er Maß genommen und passende Schuhe gefertigt hat: Marko, Giunti, Lauda, Vaccarella, sogar von Sebastian Vettel.
Ciccio hat auch enormen Anteil am Erfolg des Engländers Vic Elford, der im Jahr 1968 zur Targa Florio kommt. Der Brite hatte von Ciccios genialen Maßschuhen gehört. Nach einem Unfall in der Kindheit war ihm eine Zehe am linken Fuß amputiert worden. Schuhe, ganz besonders die zum Rennfahren, sind seither ein Problem. Ciccio arbeitet die Nacht vor dem Rennen durch, fertigt für Elford zwei verschieden große "Scarpe": Größe 45,5 für den rechten und 43 für den linken Fuß.
Ciccio, der Schuhmacher der Stars
Der Brite gewinnt tags darauf die Targa Florio in einem denkwürdigen Rennen, in dem er, nach Reifenschaden und Rückstand, seinen 907er-Porsche trotzig an die Haftgrenze treibt, den damaligen Rundenrekord mehrmals bricht. Porsche druckt danach zum ersten Mal ein Siegerplakat ohne Auto, nur mit dem Konterfei des Fahrers – Vic Elford. Bis heute sind Elford und Ciccio befreundet, mehr noch, sie fühlen sich als Brüder.
Weniger harmonisch das Schicksal der Targa Florio: Im Jahr 1977 bricht die Polizei das Rennen ab, nach mehreren schweren Unfällen und Todesopfern unter den Zuschauern. Der Wahnsinn, wie Helmut Marko das Rennen nannte, ist damit vorbei. Ab 1978 wird die Targa Florio nur mehr als Rallye durchgeführt.
Und wenn die Organisatoren der 100. Targa Florio, der AC Palermo und der Automobile Club d'Italia (ACI), am 5. Mai das Rennen freigeben und der nostalgisch-martialische Motorensound der "belle macchine" von einst wieder durch die Landstraßen der Madonie dröhnt, dann werden auch einige der Stars von damals dabei sein: voller Erinnerungen, mit schütterem, grau-meliertem Haar, mit leuchtenden, mancher vielleicht auch mit feuchten Augen.
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