Wahnsinn Goodwood

Einmal im Jahr, jeden Juni, versammelt der Earl of March die ausgefallensten Kisten auf Rädern auf seinem Landgut in West Sussex: über hundert Jahre alte Automobile, WRC-Rallyefahrzeuge, Formel-1-Rennwagen und andere fahrbare Pretiosen. Besuch beim Goodwood Festival of Speed.

Das Geradeausfahren ist dem kreischenden Mazda RX-7 anscheinend nicht gegeben. Er kann viel, aber das kann er nicht. Sein Heck wild hin- und herschwenkend wie eine enthemmte Sambatänzerin stürmt er das schmale Asphaltband entlang, einmal links quer, einmal rechts quer, in den Kurven total quer. Die hinteren Radkästen blasen weißen Rauch in dicken Schwaden aus, während sich die Reifen langsam auflösen. Nicht einmal zwei Kilometer lang ist der legendäre "Hillclimb" vom Start bis zum Ziel, den der kolumbianische Rennfahrer Juan Pablo Montoya einmal so charakterisierte: "The narrowest, bumpiest, least grippy course I've ever driven, and I absolutely love it." Gesäumt von tausenden Zuschauern führt die Straße am ehrwürdigen Goodwood House vorbei in den Wald hinauf, den Streckenrekord hält Nick Heidfeld, der den Aufstieg 1999 mit einem Formel-1-McLaren MP4/13 in spektakulären 41,6 Sekunden erledigte.

Seit einigen Jahren ist das Festival of Speed auch eine grandiose PR-Bühne für Autohersteller, die ihre Pavillons und Messehallen auf die geräumigen Wiesen des Earl of March (60) stellen und ihre Werksmuseen nach Schätzen durchforsten, die sie fahrbereit machen und möglichst prominenten Gastfahrern unter den Hintern schieben können.




The narrowest, bumpiest, least grippy course I've ever driven, and I absolutely love it.






Juan Pablo Montoya, Ex F1-Fahrer
So sah man heuer Felix Baumgartner einen klassischen Bugatti auf schmalen Reifen über die Strecke driften, Jenson Button und Damon Hill saßen in alten Formel-1-Autos und der "Millimeterfahrer" (Interview in auto touring feb/14) Ken Block warf nicht nur seinen 845-PS-"Monster"-Mustang namens "Hoonicorn" um die Kurven, sondern auch den nagelneuen, 350 PS starken Allrad-Ford Focus RS. 

Wir meinen: Wer lauten Motoren, Benzingeruch und kultivierter Zeltfest-Stimmung in der denkbar schönsten Umgebung mit dem denkbar angenehmsten Publikum etwas abgewinnen kann, sollte zumindest einmal im Leben beim Goodwood Festival of Speed in Südengland gewesen sein. Lust, uns auf einer Reise zum spannendsten Motorsport-Event Europas zu begleiten? Dann ab nach Goodwood...

Das Publikum spaziert über das weitläufige Areal, steht am Streckenrand oder hat sich's in einem der vielen Hospitality-Zelte gemütlich gemacht, die mehr oder weniger nahe an der Fahrbahn stehen. Die Action verpasst niemand, denn überall sind großflächige TV-Screens postiert, und überhören kann man die Boliden sowieso nicht, wenn sie die Anhöhe emporjagen. An ein paar Stellen kann man die Strecke auf Brücken überqueren, die aber vollständig eingekastelt sind, damit man von oben nichts sieht. Dadurch wird vermieden, dass sich dort Menschenmassen ansammeln, die das Konstrukt zum Einsturz bringen könnten. 

Ganz in der Nähe liegt die bekannte Rennstrecke, auf der in den 1950er- und 60er-Jahren auch die Formel 1 gastierte. Als der damals 38-jährige Earl of March 1993 das erste Festival of Speed ausrichtete, fand er es eine gute Idee, die Rennfahrzeuge direkt am Goodwood House vorüberpreschen zu lassen. Er ließ einen 1,87 Kilometer langen Abschnitt der Auffahrt durch den Park ausmessen und erklärte diese Strecke zu seinem neuen Spielplatz. Von einem Bergrennen kann man nicht wirklich sprechen, dazu nehmen zu unterschiedliche Autos am "Hillclimb" teil, aber sowohl den Fahrern als auch den Zuschauern geht es ohnehin mehr ums Spektakel als um die Zeitmessung oder die Ermittlung von Tages- oder Klassensiegern. Und was wäre spektakulärer als Pink-Floyd-Schlagzeuger Nick Mason, der einen Auto-Union-Silberpfeil Baujahr 1939 (Typ D Doppelkompressor mit 485 PS starkem Zwölfzylinder) den Hang hinauf geigt, oder "Big John" Surtees in einem seiner eigenen Formel-1-Wagen, dem Surtees-Cosworth TS7 aus dem Jahr 1970?

Viele prominente Fahrer und viele atemberaubende, auch unbezahlbare Autos präsentieren sich hier in ihrem natürlichen Habitat, nämlich mit Vollgas auf einer Rennstrecke. Um nur einige davon aufzuzählen: Sir Stirling Moss am Steuer des Mercedes-Benz 300 SLR mit der Startnummer 722, mit dem er 1955 die Mille Miglia gewonnen hatte. Startzeit war damals 7.22 Uhr morgens, Moss' erreichte auf der Jagd über 1.600 Kilometer italienischer Landstraßen eine Durchschnittsgeschwindigkeit von sagenhaften 157,65 km/h. Rallye-Legende Hannu Mikkola mit einem Audi quattro S1. Formel-1-Weltmeister 1996 Damon Hill im Lotus 49 seines Vaters Graham Hill. Der 13-fache Motorrad-Champion Giacomo Agostini auf MV Agusta, denn auch Motorräder sind hier willkommen.

Die Benzinwolke mischt sich mit dem Duft von Fish & Chips, allerorten wird das unnachahmliche britische Soft-Milcheis direkt aus Ford-Transit-Eiswagen heraus verkauft, und wer Glück hat, kann sogar mit Sir Jackie Stewart oder Lewis Hamilton plaudern. Kurzum: Es ist ein Ausflug für alle Sinne – und für Motorbegeisterte die erlebenswerteste Veranstaltung, die man in Europa besuchen kann.

Info: Goodwood Festival of Speed

Praxis-Tipp der Redaktion: Die wunderschöne Küstenstadt Brighton ("London by the sea", wie es die Engländer nennen) ist nur eine Stunde Fahrzeit von Goodwood entfernt und bietet sich als günstiger Ausgangspunkt für den Festivalbesuch an. Von dort verkehren auch öffentliche Verkehrsmittel zum Gelände. In und rund um Goodwood selbst gibt es aufgrund der abgelegenen Lage nahezu keine Übernachtungsmöglichkeiten, wir empfehlen deshalb, nicht mit dem eigenen Auto/Mietwagen zum Festival anzureisen, da die schmalen Wald-Landstraßen während der Veranstaltung hoffnungslos verstopft sind (in unserem Fall: 3 Stunden für zwei Kilometer). Ausflugstipp in der Umgebung: die traumhafte Isle of Wight.