Der Mann trägt eine alte Hose und ein zerrissenes Hemd. Als er vor seinen Wellblech-Verschlag tritt, schützt er sein ergrautes Haupt mit einem bunten, ausgefransten Schirm vor der stechenden Mittagssonne. Er winkt uns zu. Ist er krank? Ein Autostopper? Ein Unfall? Wir halten den Kleinbus an und steigen aus. Der Mann zeigt auf eine gigantische Felsnadel, die aus dem Hochplateau aufragt. Getnet, unser junger äthiopischer Guide, übersetzt. Der vermeintliche Anhalter ist Priester. Er sammelt von Vorbeifahrenden, die ein Foto von der spektakulären Landschaft machen wollen, Spenden für ein Kloster zu Ehren Johannes des Täufers, das unterhalb der Felsnadel, dem "Finger Gottes", errichtet wird. Wir bedanken und verbeugen uns. Spenden. Fotografieren. Fahren weiter.
Äthiopien ist wie die Summe Afrikas: ein einziges Rätsel. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Alles hat eine besondere Bedeutung. Was wir vielleicht überheblich als Legende abtun, ist für die Menschen hier die einzige Wirklichkeit, die zählt.
In Axum, der "Heiligen Stadt" im Norden, wird unterhalb eines kleinen Bauwerks die Heilige Bundeslade mit jenen Tafeln der Zehn Gebote aufbewahrt, die einst Moses am Sinai den Menschen verkündete. Nein, nein, das ist keine unterhaltsame Geschichte für Touristen oder eine beliebte Legende. Für die Äthiopier ist es schlicht die Wahrheit. Nur ein einziger Mönch darf die Bundeslade bewachen und sehen. Wenn er stirbt, geht diese Aufgabe auf seinen Nachfolger über. Niemand sonst bekommt sie zu Gesicht. Und so existieren die Zehn Gebote von Moses heutzutage in Äthiopien in einem ähnlichen Zustand wie die berühmte Katze im Gedankenexperiment des Wiener Physikers Erwin Schrödinger, die aufgrund der Quantenmechanik gleichzeitig lebendig und tot ist: in einem Schwebezustand zwischen Sein und Nicht-Sein, hier natürlich zwischen Glauben und Wissen.
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