Wenn die späte Abendsonne Andalusiens die von Schnee bedeckten Gipfel der Sierra Nevada zum letzten Mal an diesem Tag aufleuchten lässt, erreicht die Stimmung unter den Menschen vor der Kirche San Nicolás von Granada ihren Höhepunkt. Es ist kein religiöses Fest, das von den auf einer gemauerten Aussichtsterrasse versammelten Touristen aus aller Welt begangen wird, und es gibt auch kein Freibier. Die tagtägliche fröhliche Versammlung gilt einem wohl einzigartigen Anblick: der berühmten Alhambra, der letzten Festung der Araber in Europa, deren Mauern im finalen Abendlicht rot zu leuchten scheinen.
"Al-hamra" ist Arabisch und bedeutet "die Rote". Das hat aber vielleicht gar nichts mit der Farbe der Festungsgemäuer und den damit verbundenen romantischen Sonnenuntergängen für Touristen zu tun. Vielmehr – so klärt am nächsten Tag unsere sachkundige Reiseleiterin Maria auf – beziehe sich die Bezeichnung auf den (für einen Araber außergewöhnlichen) roten Bart eines der ersten Nasriden-Emire von Granada.
Der größte Teil Spaniens (oder mit dem arabischen Namen Andalus) war über lange Zeit einer der wichtigsten Teile der muslimischen Welt. Die ersten Araber landeten 710 in Spanien, schlugen bei Tarifa ein Heer der Westgoten und errichteten bald eine Provinz des Kalifats, die bis in den Norden der Iberischen Halbinsel reichte.
Den Arabern und Berbern der ersten Besiedlungswelle folgte bald eine große Zahl von Soldaten aus Syrien – und später auch einer der von dort vertriebenen Omajjaden-Herrscher. Er gründete eine neue Dynastie, die in Spanien/Andalus 300 Jahre an der Macht blieb. Ende des 10. Jahrhunderts bestand höchstwahrscheinlich die Mehrheit der Bewohner von Andalus aus Muslimen. Seite an Seite mit ihnen lebten andere, die nicht konvertierten – allem voran Christen und eine beachtliche Zahl jüdischer Handwerker und Händler. Zusammengehalten wurden diese Gruppen durch die Toleranz der Umaiyaden gegenüber Juden und Christen und durch die gemeinsame arabische Schrift und Sprache.
Was diese längst unter gegangene Gesellschaft ausmachte, beschreibt Albert Hourani in seiner "Geschichte der Arabischen Völker" so: "Toleranz, eine gemeinsame Sprache und eine lange Tradition unabhängiger Herrschaft trugen alle zum Entstehen einer ausgeprägt andalusischen Gesellschaft und eines andalusischen Bewusstseins bei."
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