Der Mauer auf der Spur

Nirgendwo lässt sich die Geschichte des geteilten Deutschland besser erfahren als entlang der Bernauer Straße in Berlin. Wir hatten einen Guide, der selber einen Fluchtversuch wagte – und scheiterte.

Das Brandenburger Tor kennt jeder. Die Mauer, die 28 Jahre lang von Berlins Wahrzeichen Nummer eins aus den Westteil der Stadt umschloss, ist älteren Menschen noch ein Begriff. So wie die Bilder, die zeigen, wie eine friedliche Revolution vor 30 Jahren, am 9. November 1989, den 156,4 Kilometer langen Grenzwall zu Fall brachte. Für die Jüngeren hingegen klingt die Trennungslinie zwischen den Stadtteilen wie eine Geschichte aus einer anderen Welt.

Die Mauer entstand nicht von heute auf morgen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Berlin (so wie Wien) in vier Sektoren geteilt – in einen sowjetischen, einen US-amerikanischen, einen britischen und einen französischen. Berlin war also (so wie Wien) eine geteilte Stadt, die (so wie Wien) inmitten einer großen sowjetisch besetzten Zone lag. Mit der marktwirtschaftlichen Ausrichtung und der Einführung der D-Mark als Währung in den amerikanischen, britischen und französischen Sektoren Deutschlands verschärfte sich der Gegensatz zum kommunistisch orientierten Sowjet-Sektor – sowohl in ganz Deutschland als auch ganz besonders in Berlin. Erst wurden die Grenze zwischen den Sektoren durch Schilder gekennzeichnet, dann Wachorgane entlang der Grenze des sowjetischen Sektors aufgestellt. Trotzdem hatte die Grenze über Jahre noch Löcher…

1961 schließlich setzte die aus dem sowjetischen Sektor hervorgegangene Deutsche Demokratische Republik (DDR) zwei Entwicklungen ein Ende: Weil es – gerade in Berlin – noch halbwegs möglich war, die Zonengrenze zu überqueren, kehrten viele, von Bevormundungen und Repressalien frustriert, dem neuen Staat für immer den Rücken. Und gar nicht so wenige, die mit den schlechten wirtschaftlichen Bedingungen in Ost-Berlin unzufrieden waren, pendelten nach West-Berlin zur Arbeit und verdienten dort harte D-Mark. 

Brennpunkt Bernauer Straße

In der Nacht von 12. auf 13. August ging es ohne Vorwarnung los: Kampftruppen und Bauarbeiter fuhren in Ost-Berlin zu den Sektorengrenzen. Rollten Stacheldraht aus, stellten Wachen auf. Nicht nur am Brandenburger Tor. Besonders verworren war dabei die Situation an der Bernauer Straße, die den West-Berliner Bezirk Wedding vom Ost-Berliner Bezirk Mitte teilte. Die Häuser auf der nördlichen Seite der Straße gehörten – so wie die Straße selbst inklusive beider Gehsteige – zu Wedding und damit zum Westen. Die Häuser an der Südseite hingegen lagen im Bezirk Mitte und gehörten damit schon zur DDR. Was zur Folge hatte, dass binnen weniger Stunden bereits viele Bewohner aus den Fenstern nach West-Berlin gesprungen waren – um zu flüchten. Viele verletzten sich dabei. Die Haustüren zur Bernauer Straße wurden sofort bewacht – linientreue DDR-Volkspolizisten postierten sich bewaffnet auf ihrer Innenseite.

In den ersten Tagen warteten noch West-Berliner Polizei und Feuerwehr mit Sprungtüchern auf die Fliehenden, doch mit den Woche, Monaten und Jahren wurde es immer schwerer, eine Flucht zu wagen. Zuerst wurden die Häuser und das Gebiet südlich der Bernauer Straße streng überwacht – wer nicht dort wohnte, durfte nicht hinein. Dann wurden die dort lebenden Familien sukzessive abgesiedelt und die Fenster zugemauert. Bald riss man die Häuser ab, lange Jahre blieben nur ihre Fassaden bis zum ersten Stockwerk stehen – quasi als schauriges Denkmal und als Mauer gegen West-Berlin. Dahinter wurde alles planiert, mit Sperren, Scheinwerfern und Wachtürmen ausgestattet. Und mit einer modernen, höheren Mauer aus Beton auf der Ost-Berliner Seite. 

1978 war der Autor zum ersten Mal mit Freunden aus Wien vor Ort und sah sich die Situation von der West-Berliner Seite an. Die Schnappschüsse unten (mit ihm in der in der Lederjacke) sind zwar schon etwas vergilbt, zeigen aber dennoch gut den damaligen Zustand der Mauer in der Bernauer Straße: Überall entlang der Grenze waren Schilder mit der Aufschrift "Sie verlassen jetzt West-Berlin" aufgestellt, die meisten der ehemaligen Häuserfronten sind bereits abgerissen. Was die Bilder nicht zeigen: Damals gab es auf der West-Seite noch Podeste zum Hinüberschauen über die Mauer. Wer eines erklomm, hatte freien Blick auf den verminten Todesstreifen, war voll im Blickfeld der Mannschaft des nächstgelegenen Wachturms und wurde sofort fotografiert. So dürfte der Autor heute noch in irgendwelchen Archiven verewigt sein.

Heute ist alles anders: An der Bernauer Straße wurden ein Dokumentationszentrum und eine riesige Gedenkstätte errichtet. Sogar ein Teil der Mauer wurde originalgetreu wieder aufgebaut – als Mahnmal. Besichtigen lässt sich das alles gut zu Fuß. Oder, fast noch besser: mit dem Fahrrad. Denn entlang der fast eineinhalb Kilometer langen, vor zehn Jahren fertiggestellten Geschichtsmeile wurde auch ein passabler Radweg angelegt, der beim Besucherzentrum nach Norden auf ein Stück Brachland, den Park am Nordbahnhof, abschwenkt. Wer die insgesamt 14 Kilometer auf dem Rad bewältigt, bekommt in kürzerer Zeit mehr mit als zu Fuß.  

Berlin on Bike etwa bietet dreieinhalbstündige Radtouren an, die von einem Zeitzeugen begleitet werden. Wieland Herrmann ist einer davon. Pünktlich um 10 Uhr vormittags haben sich die Teilnehmer eingefunden, Fahrräder ausgesucht und lauschen gespannt dem Guide.

Auf geht’s!

Von der Kulturbrauerei nahe der Schönhauser Allee sind es mit dem Rad über wenig befahrene Nebenstraßen nur ein paar Minuten. Dann sind wir schon in der Bernauer Straße. Guide Wieland erzählt die Geschichte dieses historischen Ortes.  Er hat Fotos mitgebracht, die die Situation an genau jenen Stellen zeigen, an denen die Teilnehmer der Tour anhalten.

Der erste Stopp ist gleich bei der Wolliner Straße. Dort, wo jetzt Fuß- und Radweg der Gedenkstätte in dem weitläufigen, offenen Geschichtspark mit seinen großen Rasenflächen beginnen, waren bis 1961 die Hinterhöfe der Häuser in der Bernauer Straße – und später der Postenweg für die Patroillen der DDR-Grenztruppen. Die dichte Bebauung des Viertels lässt sich an den linker Hand knapp angrenzenden Bauten noch erahnen. An der Bernauer Straße simulieren in den Boden eingelassene drei Meter hohe Stäbe aus dickem rostfreien Stahl den Verlauf der Mauer.

Durch Tunnels in die Freiheit

In den Jahren nach 1961, in denen die Bewohner des Ost-Sektors an der Bernauer Straße abgesiedelt und ihre Häuser bis auf die Fronten abgetragen wurden, machten sich viele Menschen weiterhin Gedanken über eine Flucht. An der Oberfläche über die gut bewachte Sektorengrenze zu gelangen erschien den allermeisten aber als zu gefährlich – zu lückenlos war die Bewachung. Was aber dann? 

Als Lösung bot sich nur ein Weg unter der Erde an. 39 Tunnelprojekte gelten als gesichert, 30 davon wurden von West-Berlin aus gegraben. Es könnten aber auch 70 sein, sagen einige Historiker. Zumindest 254 DDR-Bürgerinnen und Bürgen gelang durch die Tunnel bis 1973 die Flucht in den Westen. Allein in der Bernauer Straße entstanden neun Tunnels. Schon die Topographie bot sich hier an: Von der West-Berliner Seite steigt das Gelände leicht an, man konnte dort also relativ nahe zum Erdboden beginnen und lange Distanzen relativ waagrecht weitergraben. Erst tief unter den verbliebenen Häusern weit hinter der Bernauer Straße musste man sich nach oben arbeiten. 

Beim nächsten Halt an der Ecke der Strelitzer Straße weist Wieland auf in den Rasen eingelassene eiserne Schwellen hin. Sie markieren den Verlauf des längsten und berühmtesten aller Fluchttunnels, den Tunnel 57. Er wurde 1964 aus dem Keller einer Bäckerei in der Bernauer Straße 97 Richtung Ost-Berlin vorgetrieben, war 145 Meter lang und führte in einer Tiefe von 12 Metern zu einem nicht mehr benutzten Gartenhäuschen im Hinterhof des Hauses Strelitzer Straße 55. Am 3. und 4. Oktober 1964 gelang hier 57 Menschen die Flucht. Es sollten noch weitere dazukommen, doch dann passierte etwas Tragisches.

Was danach geschah: Die DDR-Presse schlachtete den Vorfall aus: „West-Berliner Terroristen töteten einen Grenzsoldaten.“ Erst nach der Wiedervereinigung kamn der wahre Verlauf der Tragödie ans Licht. Die unterirdischen Tunnelprojekte veranlassten das Ministerium für Staatssicherheit, 1965 selbst einen Tunnel anzulegen, der quer zu den erwarteten Fluchttunneln lag, und bestückte diese mit Abhöranlagen, um über weitere Grabungen Bescheid zu wissen.

Weiter geht die Fahrradtour entlang der Bernauer Straße. Ein paar Minuten wird halten wir vor einem supermodern erscheinenden ovalen Bau. Sieben Meter hohe Kiefernholz-Pfosten ummanteln eine aus 390 Tonnen Lehm gestaltete Kirche, die im Jahr 2000 an jener Stelle errichtet wurde, an der seit 1892 eine evangelische Kirche aus Backstein stand.  

Ab 1961, als hier an der Bernauer Straße die Mauer hochgezogen wurde, stand sie im Niemandsland – mitten im Todesstreifen. Die DDR-Grenztruppen nützten ihren Turm als MG-Geschützstand, befanden aber bald, dass die Kirche die freie Sicht auf den Grenzstreifen behinderte. 1985 sprengte man sie einfach weg. 

Die alten Glocken, die sich nach der Wiedervereinigung in einem Depot fanden, versehen heute wieder, aufgehängt in einem Gerüst vor der neuen Kapelle, ihren Dienst.

Ein paar hundert Meter danach versperrt eine Barriere aus Stahl den weiteren Weg. Sie schützt einen originalgetreu wieder aufgebauten kleinen Abschnitt der Mauer – inklusive der Mauern an der Ost- und West-Seite – sowie einem Wachturm vor Vandalismus. Ein Blick darauf lässt sich von der Aussichtsplattform gegenüber werfen, die zum Dokumentationszentrum mit seiner Dauerausstellung zum Thema Mauer gehört. Wieland Herrmann erzählt seiner Radlertruppe, wie die Zonengrenze ausgestaltet war.

Kurz nach dem 9. November 1989 war die scharf bewachte Binnen-Grenze Geschichte. Überall feierten die Berlinerinnen und Berliner, dass die Mauer, die 28 Jahre lang nicht nur Sektoren, politische Systeme und Staaten hermetisch voneinander trennte, Löcher bekommen hatte. Auch in der Bernauer Straße war der Jubel groß. 

Die Route, die Wieland Herrmann für seine Fahrradtour ausgesucht hat, zweigt jetzt von der Bernauer Straße in Richtung Norden ab und führt uns durch den Park am Nordbahnhof in Richtung Invalidenfriedhof. Wieland zeigt uns noch einen Wachturm. Er hat die Schlüssel dazu mit, über eine enge und steile Stiege geht es hinauf. 

Mit dem Invalidenfriedhof hat die Fahrrad-Mauertour den am weitesten von ihrem Ausgangspunkt in der Kulturbrauerei entfernten Ort erreicht. Nun geht es wieder zurück. Die Route führt quer durch die angesagten Szeneviertel um die Tor- und die Oderberger Straße.

Wieland hat noch einen weiteren Termin an diesem Tag. Er führt nicht nur Fahrradfahrer zu den Brennpunkten der Geschichte Berlins und erzählt ihnen alles zum Thema Mauer, sondern auch Schülerinnen und Schüler. Wenn die im Rahmen einer Klassenfahrt nach Berlin kommen, ist es oft er, der ihnen seine ganz persönlichen Erinnerungen schildert.

Wieland weiß, wovon er spricht, hat er doch selbst einen Fluchtversuch unternommen. Der war jedoch nicht in Berlin, sondern an der Ostsee, in Rostock. Und endete tragisch, wie er in dem folgenden (fast acht Minuten langen) Video erzählt.


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Eine Berlin-Reportage ist auch in der Oktober-Ausgabe 2019 des auto touring erschienen.