Fremde Welt
Indiens Bundesstaat Gujarat ist vom Tourismus noch fast unberührt. Eine faszinierende Zeitreise durch ein Parallel-Universum von Vergangenheit und Gegenwart. Mit freundlichen, neugierigen Menschen unterschiedlicher Religionen.
Als ich Freunden von meiner Reise nach Gujarat erzählte, blickte ich in fragende Gesichter. Gudscha… was? Wo liegt die Stadt? Keine Stadt, nein – ein Bundesstaat in Indien. Der westlichste, an der Küste, zwischen Mumbai und der Grenze zu Pakistan. Und was schaust du dir da an? Eigentlich weiß ich's auch nicht so genau, denn in den kleinen Reiseführern steht gar nichts über Gujarat, in den großen sind es nur ein paar Seiten und das Internet gibt auch nicht viel her.
Nun, ich bin zurück. Lesen Sie, was Gujarat zu bieten hat.
Fixpunkte unserer Rundreise
Bhuj, Provinzstadt nahe der Grenze zu Pakistan
Kaum angekommen, entführt uns Umakant, unser Guide, sofort in eine fremde Welt: ins Zentrum der für Indien kleinen Provinzstadt Bhuj mit knapp 200.000 Einwohnern. Überall in den Straßen sind Kühe, so wie man sich Indien vorstellt und wie es in den Millionen-Metropolen kaum noch zu sehen ist.
Auf dem Markt ein farbenfrohes Treiben mit Ständen wie vor hunderten von Jahren, mit alten Waagen und auf dem Boden ausgebreitetes Obst und Gemüse. Dazwischen ein Geschäft mit Elektrogeräten, nebenan gleich der Schuster, der Barbier oder ein Schmied – und Imbissbuden voller fremdartiger Gerüche.
Für die Einheimischen sind wir genau so exotisch wie sie für uns. Wir fotografieren und werden fotografiert, Handy hat fast jeder und Selfies mit uns Nicht-Indern stehen hoch im Kurs. Die Kommunikation? Meist kein Problem: Englisch – wenngleich schwer verständlich, weil Wortteile verschluckt werden – und Hindi sind Indien-weit offizielle Amtssprachen. Und 20 weitere Regional-Sprachen sind offiziell anerkannt.
Die Fotowünsche und die Frage nach unserer Herkunft werden uns die gesamte Reise begleiten, allerdings niemals aufdringlich. Und wir scheitern häufig, den Unterschied zwischen Australien und Austria verständlich zu machen.
In Gujarat ist der Tourismus noch wenig entwickelt, wenn, dann reisen hierher fast nur Inder. Angenehmer Nebeneffekt: Im Gegensatz zu den touristischen Hochburgen Indiens gibt es keine Bettler, keine penetranten Händler, die einem nachlaufen oder einen in ihre Geschäfte zerren. Und: Touristen werden hier auch nicht angetatscht.
Unterwegs in den Banni Villages
In den Banni Villages nördlich von Bhuj bestaunen wir die Fertigkeiten diverser Handwerker. Die Dörfern entstanden aus ehemaligen Karawansereien entlang alter Handelsrouten. So stammen die Einwohner aus aller Herren Länder, so wie ihre Ahnen halt irgenwann einmal hier hängen geblieben waren.
Wir beobachten Textilmaler bei der fast schon ausgestorbenen Rogan-Kunst, staunen, wie ein alter Schmied ganz ohne zu schweißen oder zu nieten Glocken aus altem Autoblech fertigt, wir schauen Töpfern zu. Wir erleben die Fingerfertigkeit der Stickerinnen, wie sie die typisch indischen Spiegelstickereien fertigen und wundern uns über die Geduld der Blockdrucker – sie bedrucken meterlange Stoffbahnen mit rund 20 mal 30 Zentimeter großen Holzstempeln.
Kreuz und quer durch Gujarat
Es ist heiß in Gujarat. Jetzt, Anfang April, sind es mittags gut 40 Grad. Aber es ist trocken, also erträglich. Ab Mai folgen die ausgiebigen Monsun-Regenfälle. Europäischer Herbst und Winter sind hier sicher die bessere Reisezeit.
Der wichtigste Mann – neben unserem Guide – ist der Busfahrer, unserer heißt Karan. Er beherrscht die indischen Verkehrsverhältnisse, er weiß, wo wir hygienisch einwandfrei zu Mittag Thali essen können.
Vegetarisch ist nicht fad!
Thali (= Platte), das sind selten milde, meistens scharfe Gemüsegerichte. Üblicherweise bekommen wir Mittags eine Platte mit kleinen Schalen, in die kleine Portionen gefüllt werden. Aufgetischt wird, was der Markt gerade hergibt, so wird's nie fad, die Kombination der Gerichte wechselt, Würznote und Schärfegrade auch. Hauptzutaten: Spinat, Okra, Erdäpfel, Karotten, Kichererbsen, Bohnen, Mais, verschiedene Linsen, Chutneys und ein süßes Dessert. Dazu Reis, Fladenbrot, soviel man will, und Buttermilch oder Wasser zum Neutralisieren. Preis: 1,50 bis 3 Euro – und fast immer gibt es Nachschlag.
Auf Bier oder Wein müssen wir verzichten, denn ganz Gujarat ist alkoholfreie Zone. Am Abend dann ähnliche Gerichte als Buffett – nur selten gibt's Huhn, noch seltener Fisch. Und wenige Hotels offerieren gegen Vorweis des Reisepasses ein Flascherl Wein. Abnehmen? Fehlanzeige, zu üppig sind Kichererbsen, Erdäpfel, Reis, Bohnen und Fladenbrot.
Tipp: Wer während der Gujarat-Reise auf Whisky, Gin, Cognac, Wodka oder ähnliches zur inneren Desinfektion nicht verzichten möchte, der sollte sich spätestens im Duty-Free-Shop am Abflughafen damit eindecken.
Chai, indischer Energy Drink am Nachmittag
Karan weiß auch, wo wir unseren indischen Energy Drink gegen die Nachmittagsmüdigkeit bekommen: Masala Chai, Milch-/Wasser-Tee mit Gewürzen, mit Ingwer, Koreander und Zucker. Kochend heiß direkt vom Gaskocher in kleinen Bechern serviert.
Wir fahren auf einer der meist gut ausgebauten Autobahnen – mit 60 bis 70 km/h. Viel schneller ist nicht angebracht, immer wieder queren Kühe die Fahrbahn, kommen uns Wasserbüffel- oder Ziegenherden samt Hirten entgegen oder auch ein Geisterfahrer-Fuhrwerk.
Auf unseren langen Bus-Etappen erzählt Umakant von Land und Leuten, Politik, vom Essen, den vielen Gewürzen und wie diese vielfach auch medizinisch eingesetzt werden, dem Kastensystem und davon, dass der Großteil der Ehen immer noch arrangiert ist. Er spricht über die Religionen, Yoga, Meditation, heilige Männer, Rituale und die oft großen regionalen Unterschiede im riesigen indischen Subkontinent.
Die Autobahn mündet in eine weitere Provinzstadt – klein, zumindest für indische Verhältnisse. Im Zentrum knattern wie üblich unzählige Tuk-Tuks. Autos, Mopeds, Lastwagen, abenteuerlich konstruierte Transport-Karren und Rikschas fahren kreuz und quer, dazwischen überall Fußgänger und Kühe. Ein buntes, lautes Durcheinander – organisiertes Chaos, dauerhaft begleitet von einem Hup-Orchester. Und wenn man glaubt, es geht nichts mehr, löst sich der Knoten wie von Zauberhand. Und keiner schimpft, keiner flucht!
Das Leben spielt sich an der Straße ab: Händler bieten ihre Waren an, Marktfrauen haben auch ihre Kleinkinder dabei, größere Kinder laufen umher, Männer sitzen am Straßenrand, trinken Chai und diskutieren. Viele sitzen nach dem Markteinkauf einfach da, warten auf den Bus oder eine andere Gelegenheit, um in Ihr Dorf zurückzukommen. Wie gern würd' ich aussteigen, ins Gewühl eintauchen. Aber leider, wir müssen weiter, die Tagesetappe ist noch weit…
Auf Safari in Indien
Sie denken an Tiger? Falsch. In Gujarat leben keine Tiger, wohl aber Löwen. Genauer gesagt die letzten asiatischen Löwen, die vor Tausenden Jahren in ganz Asien lebten. Oder woher sonst hätten die Vorbilder für die Löwenfiguren in den alten Tempeln in China, Vietnam, Kambodscha, Thailand, Indien oder Burma stammen sollen?
Nachdem 1913 nur noch rund 20 Löwen gezählt wurden, installierte der Herrscher von Junagadh eine Schutzzone, die später zum Sasan Gir-Nationalpark wurde. Heute leben wieder rund 600 Löwen. Und wir haben bei unserer Morgensafari Riesenglück. Ein satt gefressener Löwe schleppt sich müde von einer Tränke unter einen Baum am Rand der Sandpiste, lässt sich fallen und aus nächster Nähe beobachten. Kurz darauf erhaschen wir einen Blick auf einen flüchtenden Leoparden und überall im Unterholz tauchen farbenprächtige Pfaue und weiß getupfte Axis-Hirsche auf.
Ein paar Tage später sind wir noch einmal auf Safari. Bei Bajana im Norden Gujarats, fast an der Grenze zu Pakistan. In der Salzwüste Little Rann of Kutch beobachten wir die seltenen Wildesel beim Umhertollen und hunderte Flamingos, die in den flachen Salzseen nach Kleinkrebsen fischen.
Heiliger Berg und Mausoläum
Junagadh liegt am Fuß der Girnar-Berge und bedeutet "alte Festung", die seit hunderten Jahren das Stadtzentrum bildet. Über rund 10.000 Stufen sind mehrere Tempel zu erreichen, wichtige Pilgerstätten der Jain-Religion.
In der Nähe eines Hindu-Tempels der Stadt treffen wir auf einige Sadhus, religiöse Männer, die häufig predigen, teilweise in Askese und von Almosen leben. Manche ziehen uns allein schon durch ihr Auftreten in ihren Bann. Sehenswert die Mausoleen zweier Fürsten, der Mohabat Maqbara Palace und das benachbarte Baha-ud-Din Maqbara, das wie ein Mini-Taj Mahal ausschaut – allerdings nicht marmorweiß, sondern sandfarben.
Ab ins 11. Jahrhundert
Ein alles überstrahlendes Bauwerk, wie etwa das original Taj Mahal in Rajasthan, hat Gujarat nicht zu bieten. Wohl aber wichtige Hindu-Tempel wie den Muttertempel von Ambaji ganz im Norden oder den Shree Swaminarayan in Bhuj, der beim Erdbeben 2001 zerstört wurde und seit 2010 in neuem Glanz erstrahlt.
Der Sonnentempel in Modhera aus dem 11. Jahrhundert besticht durch seine fein gearbeiteten Sandsteinreliefs mit religiösen, weltlichen und auch erotischen Darstellungen. Imposant ist hier auch das riesige, vor dem Tempel liegende, rechteckige Wasserbecken, das von allen Seiten über Stufen begehbar ist. Allerdings wurde dieser Hindutempel nur wenige Jahre genutzt, denn nachdem afghanische Eroberer die zentrale Statue zerstört hatten, war der Tempel auf ewig entweiht.
Noch spektakulärer und Gujarats einziges Unesco-Weltkulturerbe ist der etwa gleich alte Rana ki Vav-Stufenbrunnen in Patan. 64 Meter lang und 20 Meter breit ragt der Brunnen wie ein nach unten gebauter Tempel 27 Meter in die Tiefe – abgestuft in mehreren Ebenen. Abgesehen von der Wasserversorgung war der Brunnen eine Klimazone für die Reichen und Adeligen, die heiße Sommertage auf den angenehm kühlen Plattformen verbrachten – umgeben von wunderbaren, fein gemeißelten Reliefs mit Ornamenten sowie religiösen und weltlichen Darstellungen.
Im Norden Gujarats
Es ist schon dunkel, als wir in Poshina ankommen, einem Bergstädtchen im Norden Gujarats. Ein Schmiedeeisen-Tor öffnet sich, wir fahren in den Hof, steigen aus unserem Bus und durchschreiten ein mächtiges Holztor. Die beleuchteten Arkaden und Bogengänge, aber auch die Einrichtung des Speisesaals und der Zimmer lassen nur vermuten, was der nächste Tag eröffnet: einen Palast aus dem 16. Jahrhundert, den Darbargadh Poshina – wie aus 1001 Nacht. Mit jeder Menge Statuen, Reliefs, antiken Möbeln, Wandteppichen und Seidenmalerei-Bildern an den Wänden.
Etwas außerhalb des Ortes besuchen wir ein Dorf der Adivasi, was soviel wie "erste Menschen" heißt. Wir beobachten den Schamanen bei seinen beschwörenden Heilritualen mit Ölen und Räucherstäbchen und besuchen einen Kultort mit heiligem Baum, wo dem Hügelgott für erfüllte Wünsche gedankt wird: mit einer Kokosnuss, Zucker, Räucherstäbchen und einem Pferd aus Ton – zigtausende davon stehen dicht an dicht gereiht um den Baum.
Vom Dorf in die Millionen-Metropole
Unsere erste Ampel in Ahmedabad, mit sieben Millionen Einwohnern Indiens fünftgrößte Stadt. Rot. Karan fährt weiter, fädelt sich ein, nützt eine Lücke im dicht fließenden Querverkehr – wir sind durch. Ich schau erstaunt. "Rote Ampel heißt bei uns, ein wenig vorsichtiger fahren", grinst Karan. Alles klar.
Der Wunsch, selber hautnah in diesen Verkehrsfluss einzutauchen, steigt. Also winke ich vor dem Hotel kurzerhand ein Tuk-Tuk herbei. Der Fahrer heißt Sunny, ich vereinbare eine kurze Runde in die Altstadt und retour. Los geht's. So nah und mittendrin im Verkehrsgetöse ist man im Bus nicht. Mein Puls steigt, wenn Sunny in eine Kreuzung einfährt, wie es alle anderen aus sämtlichen Richtungen auch gleichzeitig tun. Bemerkenswert, dass es kaum kracht. Mit Blickkontakt und ständigem Hupen geht alles. Nach 20 Minuten bin ich zurück. Der Spaß kostet mich 250 Rupien, also gut 3 Euro – eine Achterbahnfahrt wäre teurer gewesen. Sunny schüttelt leicht den Kopf, nicht weil er mehr Geld will, die Geste bedeutet in Indien einfach nur "okay".
Die Altstadt Ahmedabads eroberen wir zu Fuß. Vom alten Stadttor über den alten Markt zur sunnitischen Jama Masjid-Freitagsmoschee aus dem 15. Jahrhundert, die 8.000 Gläubigen Platz bietet. Im Inneren ist leicht erkennbar, dass viele Säulen und Steinblöcke von einem überbauten Hindu-Tempel stammen. Weiter durch enge, belebte Gassen zum grellbunten Swaminarayan-Hindu-Tempel aus dem 19. Jahrhundert. In den Gassen treffen wir erstmals auf einige Bettler und die Händler sind in der Großstadt merkbar aktiver beim Anpreisen ihrer Waren.
Übrigens: Das Kopftuch ist hier kein Thema. Egal ob Muslima, Hindu, Anhängerin einer Naturreligion oder andere Religionszugehörigkeit – an Kopftuch, Schleier oder Schal sind sie nicht erkennbar, die sind nämlich bei fast allen traditionellen Kleidungen dabei.
Im Gandhi-Ashram
Wir beschließen unsere Indienreise auf historischem Boden. Im Sabarmati-Ashram (häufig auch als Gandhi-Ashram bezeichnet), wo Mahatma Gandhi von 1918 bis 1930 und lebte und den gewaltfreien Widerstand gegen die britische Besatzung organisierte. Viele Persönlichkeiten trafen hier mit Gandhi zusammen. Sein Wohnhaus ist heute Museum, in seinem Zimmer sind Spinnrad, Sitzpolster, Schreibpult und einige weitere Utensilien seines dürftigen Besitzes zu sehen.
Am Tag meiner Rückkehr ist klar: Erholungsurlaub war diese Woche in Gujarat keiner – dafür aber eine immense Horizont-Erweiterung. Eine Reise in eine fremde Welt.
Das ÖAMTC-Reisebüro bietet Indien-Reisen zu mehreren Terminen an. Nähere Infos unter Tel. 0810 120 120, in allen Filialen und im Internet-Portal von ÖAMTC Reisen.
Die Reportage ist auch in der Mai-Ausgabe 2018 von auto touring erschienen.
Auf Wiedersehen, in Indien...