Reisen im Kopf

Wenn wir schon nicht verreisen können, dann sollen die Abenteuer jetzt wenigstens im Kopf stattfinden. Zehn Vorschläge für spannende Lese-Stunden zu Hause. 

Die sozialen Medien haben auch das Reisen verändert. Solche Erfahrungsberichte beschränkten sich vor dem Internet-Zeitalter auf Reportagen oder ganze Bücher – alles in der entsprechenden Länge, um Zusammenhänge herstellen zu können. Fotos und Beiträge auf Instagram, Facebook & Co. werfen jedoch nur ultrakurze Blitzlichter auf die Wirklichkeit: Bevor wir verstanden haben, worum es überhaupt geht, ist es schon wieder finster geworden.

Reiseliteratur hingegen versucht, unser Verständnis für die Andersartigkeit der Welt außerhalb unseres gewohnten Umfeldes zu wecken. Um zu verstehen, benötigt man vor allem Zeit. In diesen Wochen, in denen die Welt still zu stehen scheint, gibt es diese vielleicht in ausreichendem Ausmaß, um in Gedanken auf Reisen zu gehen.

Dazu folgen hier zehn Vorschläge, die Auswahl ist rein subjektiv. 

Der erste Reporter

Ryszard Kapuściński: Meine Reisen mit Herodot (2005).

Wenn jemand seine eigenen Reisen – und seien sie noch so aufregend – literarisch mit Herodot, dem sogenannten "Vater der Geschichtsschreibung", in Verbindung bringt, dann ist das, gelinde gesagt, eine ziemlich ambitionierte Unternehmung. Dem 2007 verstorbenen polnischen Reporter Ryszard Kapuściński gelang mit diesem Wagnis jedenfalls ein Welterfolg. Neugier und Wissensdurst waren zu Zeiten der alte Griechen genauso wie in unserer unübersichtlichen Welt der Schlüssel, um die Welt besser zu verstehen und erklären zu können: Dieser Botschaft konnten Leserinnen und Leser rund um den Globus etwas abgewinnen.

Kapuściński, lange Zeit Auslands-Korrespondent der polnischen Nachrichtenagentur PAP, bereiste mit Herodot im Gepäck Afrika, Asien und Europa. Herodot von Halikarnassos selbst lebte von ca. 485 bis 425 vor Christus. Mit seinen Historien lotete der "erste Reporter" die Grenzen der damaligen Welt aus. Kapuścińskis Buch setzt in einzelnen Erzählungen die Erlebnisse des neuzeitlichen Reporters zu Beschreibungen des antiken Schriftstellers in Verbindung – eine meisterhafte Komposition, die einiges Lesevergnügen bildet.

Die literarische Qualität dieser Miniaturen rief aber auch Gegenstimmen auf den Plan. Nach Kapuściński Tod – er konnte sich also nicht mehr verteidigen – orteten Kritiker in seinen Reportagen allzuviel Literatur und allzu oft wenig Treue zu den Fakten. Das böse Diktum, dass ein Übermaß an Recherche die beste Reportage töte, gilt also auch hier. Das Lesevergnügen, welches die Reisen mit Herodot bereiten, wird dadurch keinesfalls geringer.

Das arabische Rätsel

Karim El-Gawhary: Alltag auf Arabisch. Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (2008).

Die sogenannte arabische Welt ist für die meisten Österreicher ein Rätsel geblieben. Daran hat auch Karim El-Gawhary nicht viel ändern können, der seit vielen Jahren mit großem Engagement von Kairo aus unter anderem via ORF die politischen Verwirrungen dieses Teils der Welt zu erklären versucht, der uns geographisch so nahe liegt und mental doch scheinbar unendlich weit entfernt ist. In den Köpfen vieler existiert der "Furchtbare Halbmond" zwischen den Emiraten am Golf und Ägypten entweder als Hort islamistischer Terroristen oder vor allem als Ort schrecklicher Kriegsgräuel.

Letzteres ist vor allem der großen Katastrophe unserer Zeit geschuldet, dem Bürgerkrieg in Syrien. Dass viele der Flüchtlinge, die von den Zeitläuften an unsere Gestade gespült wurden und hier strandeten, vor nicht allzu langer Zeit in den Vororten von Damaskus oder in Aleppo ein Leben ähnlich unserem in Wien-Döbling oder Salzburg führten, ist weitgehend unbekannt geblieben.

Umso erhellender ist dieses Buch, eigentlich kein Reisebuch im klassischen Sinne, eher eine Sammlung journalistischer Reportagen, die auch viele Jahre nach ihrem ersten Erscheinen quicklebendig sind. Zahlreiche Anekdoten auch aus der ägyptischen Familie des Autors und heitere Begebenheiten wechseln einander mit Reportagen über den harten Alltag der vielerorts bettelarmen Unterschichten ab. Geradezu meisterhaft gelingt es El-Gawhary, professionelle Distanz und grundsätzliche Sympathie für die geplagten Menschen miteinander zu verbinden. So entsteht das Panorama eines Kulturkreises, in dem uns die Menschen – trotz aller kulturellen Unterschiede – im Grunde eigentlich ähnlicher sind als wir oft glauben möchten.

Es werde finster

Paul Theroux: Ein letztes Mal in Afrika (2013).

Paul Theroux ist einer der Überväter der Reiseliteratur. "Hotel Honolulu" oder "Der alte Patagonien-Express" sind Klassiker des Genres. Mit 72 Lenzen ist Theroux in diesem Spätwerk nun "ein letztes Mal in Afrika". Von Kapstadt reist er, wie immer alleine, über Namibia und Angola nach Norden. Eigentlich möchte er auf diesem Weg bis nach Timbuktu in Mali gelangen, in den legendären Schnittpunkt der Karawanenrouten am Rand der Sahara. Doch diese Reise ist nicht wie die früheren. Theroux ist älter geworden, er hat sich verändert. Ebenso Afrika.

Wie der alternde Schriftsteller mit den Veränderungen ringt, die seine große Jugendliebe Afrika erfasst haben, macht die Faszination dieses außergewöhnlichen Reiseberichts aus. Großartig die Szene, in der Theroux nach einer Autopanne im Süden Angolas gezwungen ist, sich am Straßenrand mit Proviant zu versorgen und versucht, aus drei von Fliegen übersäten Hühnerbeinen nur jenes zu essen, auf dem im Vergleich am wenigsten Exemplare Platz genommen haben.

Therouxs Lieblingsfeinde sind die sogenannten Afrika-Experten unter den Celebrities, die per Internet oder Kurzbesuch "Gutes tun und den Armen helfen wollen" und doch nur zur Mehrung des eigenen Ruhms sinnlos mit Geld um sich schmeißen und dann wieder im Privat-Jet abrauschen. Dieser Reisebericht hat kein Happy End, denn in dem von Öl-Milliarden durch und durch korrumpierten Angola ist Schluss mit der Reise. Und das ferne Timbuktu wird bald von Islamisten eingenommen sein, die fürs Musikhören oder Tanzen die Todesstrafe verhängen. So geht diese Liebe zu Ende. 

Fremder Kosmos

Erika Fatland: Sowjetistan. Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan (2014).

Kaum jemand weiß, dass es Turkmenistan überhaupt gibt, geschweige denn, wo es auf der Landkarte zu finden ist. Mit seinen Nachbarn Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan hat Turkmenistan eine gemeinsame Vergangenheit als Teilrepublik der Sowjetunion bis 1991.

Die norwegische Autorin Erika Fatland bereist diese für Europäer exotische Weltregion inmitten Asiens mit ruhiger Hand und weit geöffneten Ohren. Das bewährt sich, denn sie ist in einen fremden Kosmos unterwegs, in dem sich skurrile und brutale Diktatoren ebenso tummeln wie Kulturvölker, in denen uralte Traditionen noch immer höchst lebendig sind. Zusammen mit den Brüchen und Verwerfungen jahrzehntelanger Planwirtschaft und Sowjetdiktatur und dem schier unermesslichen Reichtum an Bodenschätzen ist eine faszinierende Mischkulanz entstanden.

Die meisten Touristen aus Europa zieht es nach Usbekistan, wo sie in Städten mit legendären Namen wie Buchara und Samarkand der "Seidenstraße" nachspüren. Sie sollten es Erika Fatland nachmachen, also ruhig die richtigen Fragen stellen und ordentlich zuhören. Dann öffnet sich vielleicht auch ihnen die Tür einen Spalt in diese fremde Welt.

Wir Nomaden

Bruce Chatwin: Traumpfade (1987).

Traumpfade, Songlines: Das sind die unsichtbaren, einem Labyrinth ähnlichen Wege, die den australischen Kontinent durchqueren. Ihnen entlang, so will es der Schöpfungsmythos der Ureinwohner, wanderten die Ahnen und erschlossen mit ihren Liedern die Welt. Bruce Chatwin geht diesen Fußspuren in diesem Klassiker der Reiseliteratur nach, der zugleich Abenteuergeschichte, Ideenroman, Satire auf den Fortschrittswahn, Autobiographie und romantische Komödie ist.

Chatwin, der 1989 an Aids verstarb, beschäftigte vor allem die Frage, weshalb der Mensch ein derart unstetes, nie zufriedenes Lebewesen ist. Warum beschert uns die nomadische Lebensweise, die erste Form menschlicher Existenz, eigene Vollkommenheit während die heutzutage vorherrschende Sesshaftigkeit eigentlich nur Unzufriedenheit und den permanenten Wunsch nach mehr von allem hervorbringt?

So ist Chatwins Trip durch Australien, dessen Beschreibung einst Pflichtlektüre in der erwachenden Öko-Bewegung war, auch mehr als eine Generation nach seinem Erscheinen hoch aktuell.

Verbotenes China

Peter Fleming: Tataren Nachrichten. Ein Spaziergang von Peking nach Kaschmir (1996).

Peter Fleming, Bruder des 007-James-Bond-Erfinders Ian Fleming, brach im Februar 1935 als Sonderkorrespondent der Londoner "Times" nach Sinkiang auf. Chinesisch-Turkestan hieß diese Region damals – und war für Fremde eigentlich genauso wenig zugänglich wie zum Beispiel Tibet. Heute ist Sinkiang oder Ost-Turkestan jene Region Chinas, in der die einheimische, vorwiegend muslimische Bevölkerung der Uiguren mit drastischen, von Menschrechts-Organisationen heftig kritisierten Umerziehungsmaßnahmen der Pekinger Zentralregierung zur Bekämpfung religiös motivierten Extremismus konfrontiert ist.

"Wir wollten herausfinden, was in den letzten acht Jahren, seit ein Reisender zuletzt diese Region durchquert hatte, dort eigentlich vor sich ging", beschreibt Fleming selbst den pragmatischen Ansatz. 6.000 Kilometer auf asthmatischen Eisenbahnen, mit Rikschas und Lastwagen, auf dem Rücken von Maultieren und tibetanischen Ponys und notfalls auch zu Fuß mussten dafür zurückgelegt werden. Flemings Reportage ist lebendig im Stil eines Briten geschrieben, der sich mit einer "stiff upper lip" auch während der größten Strapazen nichts anmerken lässt. Selbstredend betont er auch ausdrücklich, dass er mit seiner Begleiterin Kiki, Korrespondentin einer Pariser Tageszeitung, acht Monate lang ein zölibatäres Auskommen hatte. Das waren noch Zeiten!  

Auf zum Opernball

Patricia Schultz: 1000 places to see before you die. Die Lebensliste für den Weltreisenden (2006).

Der Instagram-Hype hat das sogenannte Abhaken von Sehenswürdigkeiten, das immer schon einen schlechten Ruf hatte, endgültig zu einem No-Go gemacht. Wenn Horden von Influencern am selben Platz das gleiche Selfie schießen und in alle Welt posten, äußerst sich das in einer inflationären Entwertung. Man könnte sagen, die Magie des Ortes selbst fließt mit den Bildern ins Netz ab und löst sich dort auf.

Nur weil es in Instagram gibt, heißt das aber noch lange nicht, dass man deshalb auf einem Rom-Reise verzichten sollte. Ebenso sollte eine Safari mit dem Heißluftballon in der Massai Mara Kenias oder ein Segel-Turn durch die Grenadinen in der Karibik auf dem Lebensplan stehen – vorausgesetzt, man hat das nötige Kleingeld. Die deutsche Ausgabe des New-York-Times-Bestsellers, eine Art Lebensliste für den Weltreisenden, ist daher als erste Orientierung noch immer nützlich. 

Für Österreich werden übrigens die Grazer Altstadt, die Salzburger und Bregenzer Festspiele, die Großglockner-Hochalpenstraße, Stift Melk und Dürnstein in der Wachau, Lech und Kitzbühel in den Alpen sowie Wien und der Opernball bzw. das Hotel Imperial genannt. Schon dort gewesen?

Der Berg siegt

Jon Krakauer: In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest (1997).

"In eisige Höhen" ist keine Reiseliteratur im klassischen Sinn, sondern eine journalistische Reportage über eine Expedition zur Besteigung des höchsten Berges der Welt, des Mount Everest im Himalaja. Im Frühjahr nahm 1996 nahm der US-Amerikaner Jon Krakauer im Auftrag eines Magazins an einer Mount-Everest-Expedition teil, um über die dramatischen Auswüchse des kommerziellen Bergsteigens zu berichten. 

Das Unternehmen endete in einer der schlimmsten Katastrophen, die sich je auf dem "Dach der Welt" ereigneten: zwölf Menschen kamen dabei ums Leben. Krakauer selbst überlebte. Mit letzter Kraft schleppte er sich bei Abstieg vom Gipfel durch einen Schneesturm in sein Zelt. Sein Buch ist deshalb so aufregend und spannend zu lesen, weil er nicht nur mit kritischem Blick über die Auswüchse des modernen Alpinismus berichtet, sondern weil er auch die magische Anziehungskraft des Bergsteigens und die rätselhafte Irrationalität jener Menschen beschreibt, die über sich selbst hinauswachsen, um einen Berg zu erklimmen. 

Die Geschichte der misslungenen Expedition auf Basis des Buches erzählen auch ein spannendes TV-Dokudrama aus dem Jahr 1997 und ein nicht ganz so geglückter Spielfilm ("Everest") aus 2015. Die Corona-Pandemie hat auch den Bergtourismus am Everest vorerst einmal gestoppt, die Natur kann jetzt Atem holen.  

Medizin gegen Reisezwang

Hans Magnus Enzensberger: Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt (1995).

Hier sind sie alle versammelt: Paul Theroux, Bruce Chatwin und Richard Kapuściński beispielsweise, Giganten der Reiseliteratur. Aber auch aus anderen Genres bekannte Autoren geben Gastspiele wie Paul Nizan, der Aden, Joseph Roth, der Vienne, und Viktor Jerofejew, der Moskau entsetzlich fand. 

Wie alle Horrorgeschichten haben auch jene von den schlimmsten Reisen der Welt ihren eigenen Reiz. Mit schlecht verhohlenem Stolz oder mit triumphierendem Masochismus können die freiwilligen Opfer ihres Wahns von Abenteuern auf allen Kontinenten erzählen – von Urumtschi bis Huehuetenango. 

Klar ist: Reisen ist kein Zuckerschlecken, und alles, was schief gehen kann, geht auch schief. Man ist erst am Ziel angelangt, wenn man mit dem Schlüssel die Wohnungstür aufsperrt, keine Minute früher. Wie schreibt Liam O'Flaherty im ersten Satz seines Berichts über seine Reise durch Russland: "Das öde und verfallene Aussehen von Kronstadt hätte mich auf die größeren Schrecken von Leningrad vorbereiten sollen."  Man sollte jetzt nicht damit kommen, dass auch Verfall, Müll und Armut ihre romantischen Reize auf Reisende haben. Das glauben nur Kinder. 

Flussmagie

Michael Obert: Regenzauber. Auf dem Niger ins Innere Afrikas (2005).

Der Niger ist der drittlängste Fluss Afrikas. Er entspringt in den Regenwäldern an der Grenze zwischen Guinea und Sierra Leone und fließt in einem großen Bogen zunächst nach Nordosten in Richtung Sahara durch Mali und dann wieder nach Südwesten durch Niger und Nigeria, wo er in einem großen Delta in den Atlantik bzw. den Golf von Benin mündet. 

Der deutsche Schriftsteller und Journalist Michael Obert bereist den Fluss ganz alleine und ausschließlich mit Transportmitteln, die auch Einheimischen zur Verfügung stehen. Oberts Sympathie und Aufmerksamkeit gilt den Mitreisenden auf dem Fluss und den Menschen an den Ufern: Fischer, Händler, Nomaden und Schamanen, die ihm helfen, die Magie des Nigers zu verstehen. Zusammen mit seinen genauen Beobachtungen und seinem sachlichen Stil entsteht ein eindrucksvolles Panorama einer unglaublichen Reise, die am Schluss fast in einer Tragödie und aufgrund eines unglaublichen Wunders dann doch glücklich endet. Ganz großes Kino!