Die Chip-Misere
Sie kommt ungelegen. Kaum ziehen die Märkte an, wartet die nächste Challenge: Chips, die "Mini-Gehirne" moderner Autos, sind nicht lieferbar. Zwischen Proaktivität und Kopf-in-den-Sand-Politik.
Der Engpass in der Auslieferung von Halbleitern ist seit Monaten ein dominierendes Thema in der Autoindustrie. Endlich werden Neufahrzeuge wieder nachgefragt, doch die Versorgung mit den so wichtigen kleinen Steuerelementen ist unzureichend. Vielfach steht die Produktion neuer Pkw still.
Geschätzte elf Millionen Fahrzeuge weltweit werden aufgrund der Misere heuer nicht produziert. Für Neuwagenkäufer bedeutet das vor allem eines: warten.
Konnten vor einem Jahr Neufahrzeuge noch innerhalb von ein bis drei Monaten ab Kundenbestellung geliefert werden, dauert es heute bei nahezu allen Modellen oft sechs Monate bis zu einem Jahr, je nach Ausstattung auch länger. Und das gilt für nahezu alle großen wie kleinen Automarken.
Die Gründe der Chip-Krise sind so vielseitig wie kompliziert. So spielen nicht nur Unsicherheitsfaktoren in der globalen Logistikkette seit der Pandemie eine Rolle, erschwerend wirkte auch die Blockade im Suezkanal. Die Folge: deutlich steigende Frachtgebühren.
Die zunehmende Digitalisierung – Stichwort 5G oder künstliche Intelligenz – und der Boom in der Unterhaltungselektronik in Lockdown-Zeiten verstärken die Engpasssituation. Halbleiter werden als Komponenten in vielen Industrieprodukten oder in Consumer-Electronic-Geräten wie Smartphones, Fernsehern, Kühlschränken verwendet, sogar in Kreditkarten. Der Anteil der Automobilindustrie am Halbleitermarkt liegt bei etwas mehr als zehn Prozent. Entsprechend gering sei ihr Einfluss, so ein Sprecher der Volkswagengruppe.
Durchschnittlich 50 Sensoren sind im Auto verbaut, bei Premiumfahrzeugen bis zu 100.
Peter Schiefer, Präsident der Automotive Division bei Infineon Technologies AG
Globale und komplexe Halbleiterindustrie
Auch die globale Aufgabenteilung in der Produktion der hochkomplexen Miniteile spielt eine Rolle. Natürlich versprechen die Weltmarktführer – darunter TSMC in Taiwan, Intel oder Infineon – Milliardeninvestitionen in den kommenden Jahren.
Für weitere Unsicherheit sorgen geopolitische Spannungen, etwa Chinas zunehmend aggressive territoriale Beanspruchung von Taiwan. Der Inselstaat ist der weltweite Hauptlieferant von Halbleitern.
Ein ungewohnt harter Wintereinbruch in Texas zwang Samsung, NXP und Infineon, ihre dortigen Fabriken zeitweise herunterzufahren, in Japan wiederum hatte ein Werksbrand im April dramatische Folgen.
"Die Halbleiterproduktion ist eine der weltweit komplexesten und kapitalintensivsten Industrien überhaupt", erklärt Peter Schiefer, Präsident der Automotive Division bei Infineon Technologies AG. Teilweise sind bis zu 1.200 Arbeitsschritte für die Produktion eines einzigen Chips nötig.
Selbst die Herstellung einfacher Teile dauert in der Regel mindestens acht bis zehn Wochen, bei komplexeren sind durchaus fünf bis sechs Monate und mehr einzukalkulieren. Langfristige Planung ist gefragt.
Dies betrifft auch den Bau neuer Halbleiterwerke. Die neue Fabrik von Infineon in Villach mit ihren 400 Mitarbeitern wurde zwar früher geöffnet als geplant, doch die Fertigung wird in den kommenden vier bis fünf Jahren erst Schritt für Schritt hochgefahren. Außerdem passiert hier nur ein Teilschritt im Prozess, die Fertigstellung der Halbleiter involviert weitere Produktionsstätten weltweit.
Bei Infineon Technologies in Villach
Gefragte "Mini-Gehirne"
Wie sieht das Produkt nun aus, ohne dass die Autowelt nicht mehr auskommt? Es sind winzige Bausteinchen, die zentrale Aufgaben übernehmen und automatisiert Prozesse steuern – etwa 100 Nanometer klein. Zum Vergleich: Das menschliche Haar ist rund 70.000 Nanometer dick (0,07 Millimeter).
Diese Chips haben dreidimensionale Strukturen, die auf Wafer, ultradünne Scheiben, geätzt werden. Sie bestehen aus Halbleitermaterial, meist Silizium, hergestellt aus Quarzsand, in das elektrische Schaltkreise eingeschrieben sind.
Mit 90 Prozent der Rohstoffgewinnung ist China Hauptförderland dieses Materials, hat aber die Fördermenge zur Erreichung der Energieziele gerade deutlich gedrosselt, wodurch wiederum der Preis am Rohstoffmarkt in die Höhe geschossen ist.
Die Leistung der Miniteile wächst exponentiell, verdoppele sich laut Schiefer alle Jahre. Heutige Smartphones haben die millionenfache Rechenleistung des Computers, der 1969 die Mondexpedition der NASA begleitet und gelenkt hat.
Chips sind das Gehirn moderner Fahrzeuge. Ihr Anteil in den Autos nimmt seit Jahren kontinuierlich zu, in Elektroautos ist er höher als in Verbrennern.
"Durchschnittlich 50 Sensorenchips sind im Auto verbaut, bei Premiumfahrzeugen bis zu 100", detailliert Peter Schiefer von Infineon. "In zehn Jahren dürften es noch 50 Prozent mehr sein." Die kleinen Teile stecken in der gesamten Elektronik, in Connectivity-Diensten, sämtlichen Komfort- und Fahrassistenzsystemen, im digitalen Cockpit und modernen Infotainment-Anlagen. Je elektrifizierter und autonomer Fahrzeuge werden, desto mehr leistungsfähige Halbleiter brauchen sie.
Pkw-Neuzulassungen gehen zurück
VW agiert mit Taskforce
Doch wie gehen die Hersteller mit den Lieferengpässen um? "Sie sparen bei der Verwendung einzelner Chips", informiert Günther Kerle, Vorsitzender und Sprecher der österreichischen Automobilimporteure. "Manche Fahrzeuge werden derzeit mit nur einem Autoschlüssel ausgeliefert. Das spart schon einen Chip."
Laut Kerle werde auch versucht, die Ausstattung zu reduzieren. So werden automatisch einklappbare Außenspiegel beispielsweise auf händische Handhabung umgestellt, wenn dies der Käufer akzeptiert.
Der Volkswagen-Konzern hat im Zuge der Halbleiterkrise eine 40-köpfige Taskforce eingerichtet, um die Chip-Versorgung zu organisieren, Produktionsausfälle zu minimieren, zu koordinieren und intelligenteres Lagermanagement zu betreiben.
"Volkswagen wird künftig mit den Chip-Herstellern direkt in Kontakt treten, um den Austausch zu intensivieren und den Bedarf direkter und frühzeitiger abstimmen zu können", sagt ein Sprecher des Konzerns.
Man plane darüber hinaus selbst in die Produktion einzusteigen, kündigte Vorstandsvorsitzender Herbert Diess im April an, insbesondere in die Fertigung von Hochleistungsprozessoren, denn anders könne man gegen die erstarkende Konkurrenz wie Tesla oder Apple und Herausforderer in China nicht bestehen.
Die Hersteller sind auch selbst schuld. Es gibt kaum verpflichtende Abnahmeverträge.
Günther Kerle, Vorsitzender und Sprecher der österreichischen Automobilimporteure
Harte Zeiten für Zulieferer
Dass die Zulieferbetriebe harte Zeiten erleben, ist ebenso zu beobachten. Insbesondere kleinere und mittelständische Betriebe sind teils existenziell bedroht. Die deutsche Reifenindustrie klagt über einen Tiefststand bei der Herstellung: minus 27 Prozent zum Vorjahr – getrieben durch die Chipkrise und eine geringere Abnahme.
Auch österreichische Zulieferbetriebe stöhnen. Die Motorenwerke in Aspern, Zulieferer der PSA-Gruppe, sind auf Kurzarbeit. Vielen droht Arbeitslosigkeit.
Eine dauerhafte Entspannung hängt maßgeblich von der Halbleiterindustrie ab und wird von Volkswagen bis spätestens Mitte 2022 erwartet: "Wir streben an, den hohen Auftragsbestand im Sinne unserer Kunden schnellstmöglich zu bedienen und planen, wo immer möglich, außerplanmäßige Produktionen ein", heißt es.
Günther Kerle ist weniger optimistisch und glaubt, dass "die Misere" bis Ende des kommenden Jahres dauern könnte. Auch andere Branchenvertreter meinen, eine Erleichterung der Situation sei aktuell nicht absehbar.
Für Neuwagenkäufer und -käuferinnen bedeutet das: Abwarten und Altfahrzeuge liebevoll behandeln. Denn die Knappheit führt zu wachsender Nachfrage am Gebrauchtwagenmarkt und spürbaren Preiserhöhungen.