Fluss und Verdruss
Wie regeln europäische Großstädte ihren Verkehr? Und könnten sie voneinander vielleicht lernen? Wir besuchen die Verkehrsleitzentralen dreier höchst unterschiedlicher Metropolen: Athen, London und Wien.
Es herrscht Anarchie auf unseren Straßen", lacht Dimitris Kefallinos zur Begrüßung. Er ist Leiter der Athener Verkehrszentrale, seit 36 Jahren im Geschäft und die Blaupause eines älteren Griechen: In einer Hand spielt er mit dem landestypischen "Komboloi"-Kettchen, in der anderen hält er einen Nikotin-Verdampfer, die Arme gestikulieren wild.
Die schwierigste Aufgabe sei es, die Mentalität der Athener zu verstehen, sagt er, auf den Verkehr "seiner" Stadt angesprochen: "Wir können Empfehlungen abgeben und informieren, der Rest liegt leider aber nicht mehr in unserer Macht."
Auf dem Weg zum Treffen haben wir uns durchs Chaos von Athen gekämpft: An ungeregelten Zebrastreifen bleibt kein Autofahrer freiwillig stehen, dazwischen düsen tausende Moped- und Motorradfahrer durch, die Hälfte ohne Helm und viel zu schnell. Viele Gehsteige sind extrem schmal und mit Löchern übersät – für Kinder, Ältere oder Menschen mit Kinderwagen ein Riesenproblem.
Es wär so einfach: Wenn sich alle an die Regeln halten, kommen auch alle schneller voran.
Brigadier Michael Takacs, Leiter der Wiener Verkehrspolizei
Erste Station: Athen
In der griechischen Hauptstadt ist vor allem die Infrastruktur der öffentlichen Verkehrsmittel problematisch: Obwohl in Athen vier Millionen Menschen leben und die Stadt ständig wächst, gibt es nur drei U-Bahn-Linien – und die werden eher ungern genützt. Schließlich zählen Taxis wegen ihrer Spottpreise auch für Kurzstrecken als alltägliches Fortbewegungsmittel – zusätzlich zu den zwei bis drei Autos, die fast jede Athener Familie besitzt. Fahrradwege oder E-Mobilität? Fehlanzeige, für beides fehlt die Infrastruktur.
Dabei wurde seit Anfang des Jahrtausends viel Geld in die Verbesserung des Verkehrs investiert. Hintergrund: Die Stadt wollte sich bei den Olympischen Spielen 2004 international nicht blamieren. Dimitris Sermpis, Verkehrsingenieur der privat geführten Maut-Autobahn "Attiki Odos": "Das war damals eine gute Ausrede für die Politik, um Geld reinzustecken. Ohne die Spiele hätten wir noch immer das Chaos der 1980er-Jahre."
Der Athener Verkehr in drei Bildern
Woran hapert's?
Die Finanzen sind das ewige Problem von Athen, aber ausgerechnet die Wirtschaftskrise zwischen 2010 und 2015 hat dem ausufernden Verkehr gut getan: Viele Menschen waren arbeitslos, konnten sich teures Benzin oder Mautgebühren nicht mehr leisten – was zu einem Rückgang des Verkehrs um 40 Prozent führte. Jetzt, wo es wirtschaftlich langsam wieder bergauf geht, kommen aber auch die Autos zurück – ein Teufelskreis.
In den beiden Athener Verkehrsleitzentralen versucht man rund um die Uhr, der Sache Herr zu werden. Jene in der Stadt ist staatlich, im fensterlosen Keller einer Mobilfunk-Firma untergebracht und atmet den Charme der 1960er-Jahre. Ihre Hauptaufgabe: Verkehrsteilnehmern aktuelle Informationen zu liefern (etwa über eine App, nicht aber via Radiostationen) und punktuell zu versuchen, Staus zu lösen. Das geschieht mit Hilfe von rund 200 Überwachungskameras, 500 Boden-Detektoren und 25 programmierbaren Überkopf-Hinweisschildern. Im Verbund kontrolliert die Software 1.500 Ampeln, die von den Bewohnern traditionell als lieb gemeinte Empfehlung verstanden werden.
Antonis Chaziris, Verkehrsmanager in der Zentrale: "Die Politik hält das System zwar am Leben, investiert aber heute so gut wie nichts mehr. Deshalb müssen wir jedes einzelne Problem kreativ lösen, es gibt keine speziellen Strategien." Mangels eigener Fahrzeuge kann innerstädtisch auch nicht selbst vor Ort eingegriffen werden – ganz im Gegensatz zur nicht-staatlichen "Attiki Odos"-Autobahn, die in Sachen Verkehrsfluss, Modernität und Sauberkeit das komplette Gegenteil des Stadtgebiets ist. Hier dauern Staus auch in den Rush-hours kaum länger als 20 Minuten. Das Unternehmen finanziert sogar eine eigens für diesen Autobahn-Abschnitt zuständige Verkehrspolizei, erzählt uns Fanis Papadimitriou, Leiter der "Attiki Odos"-Verkehrszentrale.
Ob neue Mobilitätsformen wie autonome Fahrzeuge künftig zur Verbesserung in Athen beitragen könnten, fragen wir ihn: "Vor 2050 kann ich mir kaum vorstellen, dass so etwas in Griechenland nur annähernd funktioniert."
Lokalaugenschein Athen
Schauplatzwechsel: London
Wir stehen in der Lobby der Londoner Verkehrsleitzentrale und lassen ein mühsames Sicherheits-Procedere über uns ergehen: Wie am Flughafen müssen wir unsere Jacken ausziehen und durch Metalldetektoren schreiten.
Das Hochhaus am südlichen Themse-Ufer nahe der berühmten Waterloo Station ist riesig, hochmodern, auf dem blitzsauberen Boden könnte man picknicken. Man spürt: Hier hier wird definitiv nicht "kreativ" gearbeitet wie in Athen. Klar: London ist mit knapp neun Millionen Einwohnern die Mega-City Europas, jeder winzige Planungsfehler im Verkehrswesen führt hier in der Sekunde zum Stillstand. Und das bedeutet in der Finanz- Metropole: Es kostet Geld.
Im Gegensatz zu Athen sei das Verkehrs-Budget in London aber ein vernachlässigbares Problem, sagt Paul O'Connor, Kommunikations-Chef der Zentrale. Knapp zehn Minuten Audienz gewährt uns der auffällig glatte Mittvierziger, gewinnt aber mit britischem Humor: "Wenn ich morgens meinen Tee zu spät aufsetze und nicht rechtzeitig im Büro bin, dann spüren das Millionen Londoner sofort und ziehen eine Augenbraue rauf."
Zahlen, mit denen die Verkehrsbehörde "TfL" (Transport for London) täglich zu tun hat: 21.000 schwarze Taxis, 9.300 Busse auf 675 Routen, 11 U-Bahn-Linien samt 270 Stationen, dazu Schnellbahnen, Schiffsverbindungen – plus der Individualverkehr, bestehend aus Einwohnern und Pendlern.
Der Londoner Verkehr in drei Bildern
Wie funktioniert London?
Auf Londons Straßen sorgen 6.300 Ampeln für möglichst flotten Verkehrsfluss, die einzeln und automatisiert auf das Fahrzeugaufkommen reagieren können. Jede wird per CCTV-Kamera überwacht, und ein Mitarbeiter der rund um die Uhr besetzten Leitzentrale kann per Direkteingriff in die Ampelphasen gezielt Staus entlasten.
Das größte Problem, mit dem der Verkehr in London zu kämpfen hat: Die Straßen des Stadtzentrums wurden allesamt schon vor der Erfindung des Automobils gebaut und sind dementsprechend eng, historisch geschützte Gebäude dürfen nicht abgerissen werden. Dieses architektonisch bedingte Nadelöhr führt zu einer Pkw-Durchschnittsgeschwindigkeit von mittlerweile weniger als 13 km/h. Und exakt hier setzt eine Direktive des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan an: die Zukunft des Fahrrads.
Das gesamte Verkehrswesen der britischen Hauptstadt fällt nämlich in die Zuständigkeit des "Mayor of London", der diese an die Verkehrsgesellschaft TfL delegiert. Und Bürgermeister Khan hat vor einiger Zeit ein engagiertes Maßnahmenpaket verabschiedet, das seine Stadt bis bis zum Jahr 2041 massiv verändern soll.
Vorweg: Empfindliche Einschränkungen gab es in London schon bisher. Erstens die seit 2006 bestehende "Congestion charge", eine Innenstadt-Maut, die mit umgerechnet 13 Euro pro Einfahrt nicht billig ist, zweitens die Einführung der Ultra Low Emission Zone ULEZ. Diese größte City-Umweltzone der Welt bewirkt, dass alte "Stinker-Autos" hohe Gebühren zahlen müssen, wenn sie in die Stadt wollen. Überwacht wird das mit allgegenwärtigen Kameras samt Kennzeichen-Erkennung. Lückenlos, es gibt kein Entkommen.
Englische Visionen
Der Wunsch des Bürgermeisters und seiner Zukunfts-Strategie: 80 Prozent aller Wege jedes Einwohners sollen bis 2041 problemlos zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit den Öffis bewerkstelligt werden können. Eine große Aufgabe, aber Untersuchungen geben Khan Recht: Die Studie "Traffic in the City 2018" der City of London Corporation weist für die Stadt einen signifikanten Rückgang des motorisierten Individualverkehrs auf, zu den Spitzenzeiten des Berufsverkehrs werden heute tatsächlich mehr Fahrräder als Pkw gezählt.
Die Zahl der Radfahrten ist in London zwischen 1999 und 2017 um 292 (!) Prozent gestiegen, der Autoverkehr im selben Zeitraum um 40 Prozent gesunken – nicht zuletzt durch die Installation der sogenannten "Cycle Superhighways". Das sind breite, vom Autoverkehr meist getrennte Radwege, auf denen man am Drahtesel schneller durch London kommt als mit dem Auto. "Mini-Holland" nennt London das – in Anlehnung an das Radler-Mekka Amsterdam. Außerdem wurde ein funktionierendes Miet-Fahrrad-System installiert: An 750 klug im Stadtgebiet verteilten Stationen können 11.500 Fahrräder unkompliziert in Betrieb genommen werden.
London mutiert also zur Fahrrad-Stadt – ein Trend, der sogar einen neuen Einwohner-Typus entstehen ließ: den "Mamil" (Abk. für "middle-aged man in lycra", hier ein sehenswertes Video), also einen Mann, der mit Elastan-Outfit, einklickbaren Fahrradschuhen und Helm ins Büro zischt, um dort in den Anzug zu wechseln.
Wir fragen Paul O'Connor zum Schluss, wie London diesen Umbruch geschafft hat. Er lacht: "Uns geht es eigentlich gar nicht mehr so um den aktuellen Verkehr. Den haben wir nun im Griff, er wird von Jahr zu Jahr weniger. Woran wir tüfteln, ist vielmehr die urbane Mobilität der Zukunft." Wie bitte? Er präzisiert: "Unser Job ist es jetzt, den Arbeitsweg jedes Londoners künftig so zu gestalten, dass seine Stimmung weder morgens im Büro noch abends beim Heimkommen durch den Verkehr vermiest wird." Und: "Ich darf nicht zu viel verraten, aber unsere Mitarbeiter beschäftigen sich momentan intensiv mit den vielfältigen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, Stichwort autonom agierende Drohnen."
Lokalaugenschein London
Und wie schaut's in Wien aus?
Zum Schluss unserer Tour besuchen wir natürlich auch noch die Verkehrsleitzentrale unserer Bundeshauptstadt. Vorweg: Wien ist verkehrstechnisch in vielen Belangen aber schon längst dort, wo andere europäische Großstädte hinwollen – allein, was die "Öffis" angeht: Im "Modal split", also der Aufschlüsselung, wieviel Prozent aller zurückgelegten Wege auf welches Verkehrsmittel entfallen, erzielen Bus, "Bim" & Co. mit 38 Prozent einen extrem hohen Anteil. Zudem wohnen rund 96 Prozent aller Wiener in Gehweite zu einer "Öffi"- Station und können auf die nur 365 Euro kostende Jahreskarte zurückgreifen.
Wir treffen Brigadier Michael Takacs, den Leiter der Wiener Verkehrspolizei, und seinen Kollegen, Chefinspektor Rainer Samer, in der Verkehrsleitzentrale, die sich in der Rossauer Kaserne im 9. Bezirk befindet…
Die Wiener Verkehrsleitzentrale
24 Stunden am Tag wird von hier der Verkehr via 75 innerstädtischer Kameras überwacht, Kernstück ist ein hochmoderner Zentralcomputer samt digitalen Steuereinheiten und hunderte Kilometer langen Glasfaser-Leitungen.
Die Zentrale fungiert als Funkstelle für die Landesverkehrsabteilung und kümmert sich um alles, was "Verkehr" betrifft. Kommt es bei einer der 1.300 Wiener Ampeln zu einer Störung, sorgt die Leitzentrale dafür, dass der Verkehr trotzdem fließt, in dem etwa die Ampeln auf der Ausweichstrecke moduliert werden.
Takacs: "Jeder Stau wirkt sich ja nicht nur lokal aus, sondern viel weitläufiger. Wie die Wellen eines Steins, den man ins Wasser wirft." Apropos: Auch die "grünen Wellen", deren Ausbau der ÖAMTC vehement fordert, weil sie zu einer deutlichen Schadstoffreduzierung führen, können bei besonderen Verkehrsmaßnahmen beeinflusst werden – wobei generell gilt: Die Leitzentrale ist an die Vorgaben der Politik gebunden und kann diese nur vollziehen. Brigadier Takacs: "Da gibt's aber traditionell einen guten Austausch." Übrigens auch mit dem ÖAMTC, der von der Leitzentrale per "Traffic information system" ständig über das aktuelle Verkehrsgeschehen oder bevorstehende Straßensperren informiert wird.
Der Wiener Verkehr in drei Bildern
Was geht in Wien, was nicht?
Wir fragen: Stößt man trotz des im internationalen Vergleich hervorragend funktionierenden Wiener Verkehrs manchmal an Grenzen? Chefinspektor Samer: "Wenn's einen großen Verkehrsunfall gibt, im Stadion gleichzeitig ein Konzert ist und noch dazu eine Demo am Ring, kann's schon einmal eng werden."
Michael Takacs dazu: "Das Schlimmste ist für uns der Verkehrsstillstand, weil dann können wir auch nichts mehr reparieren." Und wie vermeidet man den am besten? Takacs lacht: "Es wär eh so einfach: Wenn sich alle an die Regeln halten, kommen auch alle schneller voran."
Lokalaugenschein Wien
Γεια σας, Bye-bye, Servus!
Zum Ende unserer Tour haben wir alle drei Verkehrsleitzentralen-Chefs jeweils um ein Statement gebeten, das den Verkehr in "ihrer" Stadt charakterisiert. Bitte sehr…