Queen Mary, die Migrantin
Lebensretterin, Truppenrefugium, Rekordhalterin, Luxuskreuzer, Geisterschiff: Die RMS Queen Mary hat auf See alles erlebt. Seit 50 Jahren genießt die mächtige Britin vor der kalifornischen Küste ihre Pension. Und gewährte uns eine exklusive Audienz.
So etwas hatte die Welt noch nie gesehen. Nach einer epischen 39-Tage-Reise über 14.500 Seemeilen lief die RMS Queen Mary am 9. Dezember 1967, begleitet von fast 5.000 kleineren Schiffen, in den Hafen von Long Beach, Kalifornien, ein. Es war ihre letzte Reise, und sie war anstrengend: Obwohl sich zwei ihrer vier Schiffschrauben die letzten Wochen auf See absichtlich nur im Leerlauf drehten, war ihr Durst bemerkenswert. 550 Tonnen Treibstoff flossen täglich (!) durch die Leitungen der trinkfesten Britin, die Ortsnamen der sieben Tankstellen unterwegs konnten mondäner und exotischer nicht klingen: Lissabon, Las Palmas, Rio de Janeiro, Valparaiso, Callao, Bilbao, Acapulco – und eben Long Beach.
Die 1.200 Menschen an Bord waren Zeitzeugen des fulminantesten Triumphs der Passagier-Schifffahrt – und gleichzeitig ihrer größten Tragödie. Warum? Weil Kreuzfahrten auf der Transatlantik-Route zwischen Europa und den USA danach nie mehr das sein sollten, was sie einmal waren: In jenen Tagen brach das Jet-Zeitalter an (sehr lässiges Video, Anm.), betuchte Reisende konnten fortan erstmals nonstop in ein paar Stunden über den großen Teich fliegen.
Die Queen Mary, das fortschrittlichste Schiff seiner Zeit, wurde Opfer des Fortschritts.
Wir bitten um Audienz
50 Jahre später an einem sonnig-warmen Wintertag in Long Beach: Ich stehe vor dem wundervollen Ungetüm aus Stahl und lasse meine Gedanken schweifen.
Ich frage mich: Welch glorreiche Momente müssen das damals gewesen sein, als "sie" und ihr Schwesterschiff, die Queen Elizabeth, einander auf ihrer Route mitten durch den Atlantik trafen und beiderseits das meilenweit hörbare Horn erklingen ließen? Welche Angst muss ein junger GI empfunden haben, als er auf ihr Richtung Normandie in den Krieg zog und welche Erleichterung, wenn er einer von jenen 1.5 Millionen Soldaten war, den sie gesund wieder zurück gebracht hat? Was hat ein jüdischer Flüchtling gespürt, als er wusste, dass sie ihm in letzter Sekunde ein Leben in Freiheit garantieren würde? Wie muss es sich angefühlt haben, nächtens vor Neufundland in feinem Zwirn beim Captain’s Dinner zu speisen, während die Begleitung mit elegant angewinkeltem Handgelenk Zigarette mit Spitz rauchte?
Zu viel Emotionen für einen Haufen Metall, finden Sie? Wir nicht. Und wir werden gleich auch einen Mann kennenlernen, der sagt: "Dieses Schiff ist das einzige von Menschenhand gefertigte Objekt, das einem echten menschlichen Wesen entspricht." Aber langsam…
Die Geburt einer Königin
Als die RMS Queen Mary am 26. September 1934 im schottischen Glasgow vom Stapel lief, lag ihrer Taufe gleich einmal ein grandioses Missverständnis zugrunde: Angeblich sollte das Schiff gemäß einer Tradition der Cunard-Reederei wie seine bisherigen Geschwister (RMS Lusitania, RMS Aquitania, RMS Mauretania, RMS Berengaria) nämlich einen auf "ia" endenden Namen erhalten.
Die Cunard-Bosse hatten daraufhin die bis 1901 regierende Queen "Victoria" im Sinn und wandten sich an den aktuellen König George V. – mit der Bitte, den neuen Luxuskreuzer nach "Britanniens größter Königin" taufen zu dürfen. Worauf dieser geantwortet haben soll, dass sich seine Gattin (mit vollem Namen übrigens "Victoria Mary Augusta Louise Olga Pauline Claudine Agnes", oder kurz: Mary von Teck) äußerst geehrt fühlen würde, ihren Namen für dieses prachtvolle Schiff zur Verfügung zu stellen.
Das Problem: Diese Dame war trotz ihres ersten Vornamens eigentlich nie gemeint. Noch dazu war sie aufgrund ihrer deutschen Abstammung rein adelstechnisch auch nur eine Prinzessin. Trotzdem: Der Reederei blieb – very british, indeed – nun nichts anderes übrig, als mit hochgezogener Augenbraue zu verkünden, dass das Schiff fortan Queen Mary heißen würde…
Das Schiff der Superlative
Die irrwitzigen Ausmaße und technischen Daten der Queen Mary waren (und sind) nur schwer zu begreifen. Zur vereinfachten Darstellung des damals größten Passagierschiffs der Welt gab es aber einen wunderschön gestalteten Bildband namens "The Queen Mary: A Book Of Comparisons" (s. nachfolgende Illustrationen), der in gebundener Form natürlich zwar vergriffen, hier aber komplett zu bestaunen ist. Sehr, sehr sehenswert übrigens. Ein paar Beispiele gefällig?
* Stellte man die Queen Mary auf ihr Heck, würde sie den Eiffelturm um gut 10 Meter überragen.
* Ihre sieben Turbo-Generatoren hätten problemlos den täglichen Strombedarf einer 150.000-Einwohner-Stadt decken können.
* Jede einzelne ihrer vier Schiffsschrauben wiegt 35 Tonnen und misst 7 Meter Durchmesser, ist aber so perfekt ausbalanciert, dass sie ein Mensch einhändig drehen könnte.
Exkurs: Ein Flüchtling erzählt
Die schieren Zahlen, Daten und Fakten der Queen Mary sind beeindruckend, keine Frage. Es gibt aber Menschen, denen das bloße technische Wunderwerk des Schiffs wohl eher egal ist. Für sie spielte es nämlich eine viel entscheidendere Rolle: die des Lebensretters.
Ludwig Katzenstein wurde 1924 im deutschen Eschwege geboren. Als Hitler an die Macht kam, deutete der Vater des damals 14-jährigen Ludwig die Zeichen der Zeit richtig und plante für seine jüdische Familie die Flucht vor den Nazis. Nur drei Wochen vor den grausamen Novemberprogromen am 9. November 1938 bestieg der kleine Ludwig mit seinen Eltern einen Zug, der sie in letzter Minute nach Cherbourg in Frankreich bringen sollte – den finalen europäischen Abfahrtshafen der RMS Queen Mary in die sicheren USA…
Der Kapitän wartete sechs Stunden auf uns. Er hat uns damit wohl das Leben gerettet.
Ludwig Katzenstein, jüdischer Flüchtling
Fast wäre das Vorhaben an der französischen Grenze gescheitert: Die Gestapo kam in den Waggon, überprüfte alle Passagiere und nahm Familie Katzenstein daraufhin in Gewahrsam, weil in ihren Pässen der rote "J"-Stempel fehlte, den jüdische Bürger für den Grenzübertritt haben mussten. Es dauerte mehrere Stunden, bis Vater Katzenstein die benötigten Papiere besorgt hatte, und es schien nun unmöglich, noch rechtzeitig zum Ablegen in Cherbourg zu sein. Verzweifelt telegrafierte der Mann an die Reederei und schilderte seine Not.
In einem zu diesen Zeiten nicht selbstverständlichen Akt von Zivilcourage verzögerte der damalige Kapitän der Queen Mary, Commodore Robert Irving, daraufhin eigenmächtig die Abfahrt nach New York, um auf das Eintreffen der Katzensteins zu warten. Unglaubliche sechs Stunden lang. Eine Entscheidung, die das Leben der Familie retten würde.
Lassen wir Ludwig Katzenstein die entscheidenden Stunden selbst schildern…
Zeit, an Bord zu gehen
Schauplatz Long Beach, Kalifornien: Seit 1967 ist der Vorort südlich von Los Angeles die letzte Ruhestätte der Queen Mary. Sie ankert dort fest vertäut im Hafen und dient als schwimmendes Hotel, Museum und beliebte Hochzeits-Location.
Uns wird dort heute eine ganz besondere Ehre zuteil: Wir haben nämlich gleich eine Verabredung mit dem aktuellen Kapitän der ehemaligen Hochsee-Königin. Sein Name: Commodore Everett Hoard. Das Verwirrende an dem Mann: Er ist weltweit wohl der einzige seiner Zunft, der in seinem ganzen bisherigen Leben nicht eine nautische Meile weit tatsächlich ein echtes Schiff kommandiert hat.
Was es mit diesem Widerspruch auf sich hat und wie es dazu kam, wollen wir nun mit ihm klären. Also: Enterhaken bereit machen – und los geht‘s…
Besuch der alten Dame
Winston Churchill und die Queen Mary
Der charismatische Premierminister Großbritanniens (hier zum Nachhören seine wohl berühmteste Gänsehaut-Rede an die britische Bevölkerung) war im Zweiten Weltkrieg fraglos die herausstechendste Schlüsselfigur für den Sieg über Nazi-Deutschland. Und eines seiner wichtigsten Werkzeuge für das Erreichen dieses Ziels war: die RMS Queen Mary.
Nicht nur, dass der Bau des Schiffs in Kriegszeiten zahllose Arbeitsplätze in den britischen Werften sichern konnte, für Churchill war vor allem eine ganz besondere Eigenschaft der Queen Mary ausschlaggebend: Sie war schlicht schneller als die deutschen U-Boote, die sie unerbittlich, letztendlich aber erfolglos jagten.
Während der Verhandlungen mit US-Präsident Roosevelt über die Vorbereitungen zum entscheidenden D-Day konnte er sich bei mehreren Transatlantik-Passagen also darauf verlassen, die Vereinigten Staaten stets sicher zu erreichen. Ein Umstand, der kurz darauf auch für die massiven US-Truppentransporte in Richtung Südengland entscheidend sein sollte. Churchill sagte selbst über die Queen Mary: "Ohne dieses Schiff hätte der Krieg mindestens zwölf Monate länger gedauert."
Von unten nach oben
Exkurs: Hochzeit statt Hochsee
Auch wenn die Queen Mary seit 9. Dezember 1967 ihre letzte Ruhestätte nie mehr verlassen hat: Langweilig ist es auf ihr nie. Das liegt vor allem auch daran, dass sie einer der beliebtesten Plätze in Kalifornien ist, um einander das Ja-Wort zu geben.
Fast jeden Tag laufen hier Paare (im liberalen Vorzeige-Bundesstaat übrigens auch gleichgeschlechtlich) in den Hafen der Ehe ein, auf Wunsch mit bis zu 600 Gästen und – typisch US-amerikanisch – komplettem Brimborium wie "Wedding Planner", Spitzengastronomie und -Hotellerie sowie allem, was einem an Kitsch sonst noch einfällt für den wichtigsten Tag im Leben zweier Trauwütiger. (Interessiert? Hier gibt’s alle Infos)
Freilich das Beste daran: Commodore Everett darf kraft seines Amtes die Zeremonie selbst durchführen. Wir sehen uns mit ihm in der bordeigenen Kapelle um…
Impressionen von der Brücke
Epilog: das Geisterschiff
Zu guter Letzt: Wie jedes Schiff, das etwas auf sich hält, birgt die Queen Mary natürlich auch einige paranormale Geheimnisse. Ob es stimmt, dass sich in ihren Eingeweiden Geister herumtreiben? Wir fragen Commodore Everett:
"Ich bin in den konservativen Südstaaten aufgewachsen und habe deshalb nie an so etwas geglaubt", sagt er. "Aber ich habe hier tatsächlich ein paar komische Begegnungen erlebt. Einmal habe ich mit meiner Frau in der Suite M-001 übernachtet. Als sie am Morgen zum Frühstück gegangen ist und ich allein im Raum war, hat plötzlich mein Bett zu wackeln begonnen. Das war aber kein Erdbeben, wie ich zuerst geglaubt habe. Dann habe ich auf einmal eine Stimme ganz nahe an meinem Ohr gehört, die gesagt hat: 'Mir ist kalt, mir ist so schrecklich kalt'. Dann kam meine Frau zurück und fand mich aufrecht im Bett sitzend, alle Lichter eingeschaltet und das Fenster weit offen."
Scary Mary & Half Hatch Henry
Über 150 Geister sollen auf der Queen Mary spuken, und weil die Besucher aus der Zwischenwelt in der Regel recht gut fürs Geschäft sind, werden sie von den Betreibern des Schiffs auch genüsslich umhegt. Etwa, in dem man Kurzvideos über sie gestaltet. Zum Abschluss wollen wir Ihnen zweidieserverlorenen Seelen noch persönlich vorstellen:
Scary Mary: In den 1940er Jahren soll in einer Kabine der zweiten Klasse ein kleines Mädchen an einer schweren Krankheit gestorben sein. Seitdem berichten Passagiere immer wieder, ihren Geist durch die Gänge wandern zu sehen, während sie einen Teddybär fest an sich drückt…
Half Hatch Henry: Böse erwischt hat es 1966 auch einen damals 18-jährigen Feuerwehrmann, der während einer Routine-Übung im Maschinenraum von einer tonnenschweren Zwischentür zu Tode gequetscht wurde. Heutzutage verbringt er seine Freizeit damit, Besucher zu erschrecken und danach stets bei ebendieser Tür mit der passenden Nummer 13 zu verschwinden…
Reise-Info
* Website RMS Queen Mary
* Lageplan (Google Maps)
* ÖAMTC-Kreuzfahrten