tourbus_reportage_2017-08_CL_aufmacher.jpg Christoph Löger

Mitternacht im Tourbus: Vor Thees Uhlmann (li.) und Band liegen in den nächsten Tagen 2.500 Kilometer quer durch Deutschland. Wir sind dabei.

© Christoph Löger

Mitternacht im Tourbus: Vor Thees Uhlmann (li.) und Band liegen in den nächsten Tagen 2.500 Kilometer quer durch Deutschland. Wir sind dabei.

© Christoph Löger
Dezember 2017

Schlaflos im Grand Hotel

Was im Tourbus passiert, bleibt also doch nicht immer im Tourbus: Der auto touring durfte Sänger Thees Uhlmann samt Band und deren Kollegen von Kettcar eine Woche lang „on the road“ begleiten. Eine exklusive Backstage-Reportage.

Später Abend in Berlin-Kreuzberg. Ich trete von der Straße in einen unbeleuchteten Innenhof und taste mich mit meinem vollgepackten Armee-Rucksack die Mauern entlang. Irgendwo hier muss doch der Eingang sein, denke ich, als plötzlich eine Gestalt mit Kapuzenpullover aus dem Schatten eines Stiegenaufgangs auf mich zutritt. Ich erschrecke, das Gesicht ist in der Finsternis nicht zu erkennen.

"Schön, dass du da bist", sagt die Figur und umarmt mich. Wir drehen uns ins Gegenlicht und mein Schreck weicht wohliger Erleichterung: Es ist Thees Uhlmann.

Der norddeutsche Rocksänger, dem von Medien gerne der Nimbus des "Bruce Springsteen vom Deich" angedichtet wird, hat mich eingeladen, ihn und seine Band sowie ihre Kollegen von Kettcar eine Woche lang auf der 15-Jahre-Jubiläumstour ihres gemeinsamen Musiklabels Grand Hotel van Cleef zu begleiten. Und zwar ganz intim und rund um die Uhr: Ich darf bei Thees im Tourbus schlafen, bei den Konzerten backstage dabei sein und auch überall sonst meine neugierige Nase hineinstecken, wo Journalisten im Normalfall der Zutritt verwehrt wird.

Sprich: eine absolute Ausnahme. Und für mich als pathologischen Musikfetischisten der Himmel auf Erden.

Es soll in dieser Reportage allerdings nicht in erster Linie um die persönlichen Befindlichkeiten der höchst aufgeregten Schreibkraft gehen, sondern wir wollen zeigen, dass das Rockstar-Klischee vom "Sex, Drugs & Rock'n'Roll"-Leben auf der Straße vielleicht gar nicht in der romantisierten Ausschweifung zutrifft, wie viele Fans es gern glauben möchten.

Keine Angst: Die mythische Aura des tourenden Musikers bleibt während der folgenden Zeilen unangetastet. Nicht aber die falsche Vorstellung, dass eine Band bloß 90 Minuten pro Nacht arbeiten muss.

(Lese-Hinweis: Wir haben diese ausgedehnte Geschichte mit einer prognostizierten Lesezeit von etwa 15 Minuten großteils als Foto-Roman konzipiert. Der rote Faden erschließt sich in vollem Umfang nur dann, wenn Sie auch die Bildstrecken konsultieren.)

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Die Nacht war kurz
(ich stehe früh auf)

Songtitel von Thees Uhlmanns erstem Soloalbum (2011)

Hörbeispiele der Protagonisten

Bevor es losgeht: Lassen Sie mich zur musikalischen Einordnung meiner Reisegefährten vielleicht noch jeweils einen Song vorstellen, der stellvertretend für das extensive Oeuvre von Thees Uhlmann und Kettcar steht.

1) Thees Uhlmann – Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf

Die Band-intern auch "Fische-Song" genannte Nummer seines selbstbetitelten Solo-Debütalbums von 2011 gilt nach Uhlmanns Erfolgen als Sänger der derzeit auf Eis gelegten Indie-Band Tomte als größter Hit des 43-jährigen. Die alten Super-8-Aufnahmen im Video stammen tatsächlich aus dem Uhlmannschen Familienarchiv und zeigen den jungen Thees, gedreht wurde es im Garten seines Elternhauses im norddeutschen Hemmoor.

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2) Kettcar – Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)

Die Mannschaft rund um den Zweimeter-Hünen Marcus Wiebusch feiert nach fünf Jahren Pause mit dem aktuellen Album "Ich vs. wir" ihren größten Chart-Erfolg und landet damit sowohl in Deutschland (Platz 4) als auch Österreich (Platz 11) an Stellen, wo vergleichsweise kleine Independent-Bands sonst eher selten zu finden sind. Die Fachpresse jubelt und spricht vom "wichtigsten politischen Pop-Album seit Jahren".

Darauf zu finden: eine Single, die die Geschichte eines fiktiven Fluchthelfers in Zeiten der DDR erzählt und im Burgenland spielt, wo auch Teile des folgenden grandiosen Videos gedreht wurden.

Info: Kettcar-Live-Termine in Österreich
– 20. Jänner: Wien, FM4 Geburtstagsfest 2018, Ottakringer Brauerei (Tickets)
– 21. Jänner: Graz, Orpheum (Tickets)

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Jetzt aber: Das Abenteuer kann beginnen. Ich verlasse meine Wohnung in Wien und fahre zum Hauptbahnhof. Nur mehr wenige Stunden bis zum Treffen im dunklen Berliner Innenhof…

(Hinweis vorweg: Bitte entschuldigen Sie die für unsere Verhältnisse teilweise ungewohnt üble Qualität der Fotos. Der Authentizität zuliebe und um die handelnden Personen nicht mit lästigem Geblitze von ihrem normalen Habitus abzuhalten, entstand ein Großteil davon mit der Handy-Kamera aus dem Handgelenk.)

Behütet durch die Nacht: Auf Soelve ist Verlass

Wenn man täglich bis zu zehn Stunden im Bus unterwegs ist, einen Großteil davon unangeschnallt in einer Koje schlafend, muss man vor allem einer Person blind vertrauen: dem Fahrer. Nicht umsonst sagt die Band, dass er nach dem Sänger das wichtigste menschliche Puzzleteil einer Tour ist.

Unser Fahrer heißt Soelve. Er ist nicht nur seit vielen Jahren schon mit dem Grand-Hotel-Tross unterwegs, sondern chauffiert auch internationale Kapazunder durch die Nacht. Dass er in den langen monotonen Autobahn-Nächten so einige haarsträubende Geschichten aus dem Ärmel schütteln kann, liegt in der Natur der Sache.

Soelve erzählt mir zum Beispiel vom jüngeren des notorisch bekannten Brüderpaars G. aus England, dessen Teetasse er einmal unverlangt abwaschen wollte, nachdem der (kleiner Hinweis) "Rock'n'Roll Star" schlafen ging. Am nächsten Morgen gab’s für die gut gemeinte Geste aber eine strenge Ermahnung des Managements, dies gefälligst nie mehr zu machen.

Grund: Nach der streithaften Trennung der Band O., die die Brüder gegründet hatten, ließ der ältere seine Kontakte spielen und beauftragte jemanden, K.O.-Tropfen auf den Rand einer Tasse des in Ungnade verfallenen Verwandten zu schmieren. Seitdem darf niemand mehr die Getränke des Briten berühren.

Wie es sich anfühlt, wenn sich ein so großer Name des Musikzirkus nächtens zu ihm nach vorne in die Kabine gesellt, möchte ich von Soelve wissen. Er lächelt: "Beim Busfahrer hat keiner Starallüren. Die wissen alle, wie sie sich bei mir zu verhalten haben. Immerhin verwalte ich unterwegs ja ihr Leben."

tourbus_reportage_2017-08_CL_block1_1.jpg Christoph Löger 1
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1 Mit Soelve an seinem Arbeitsplatz: Alle viereinhalb Stunden muss er für 45 Minuten eine gesetzlich vorgeschriebene Lenkpause einhalten, in der er "auf Knopfdruck" schlafen kann, wie er sagt. Und: "Der Mond ist mein ständiger Begleiter." © Christoph Löger

2 Ein wahrlich abgedroschener Satz, aber in diesem Fall trifft er ausnahmsweise zu: Diesem Gesicht kann man vertrauen. Soelve ist ruhig, bedacht, sympathisch, verschwiegen, fürsorglich und beim Fahren fehlerlos. Zumindest bemerke ich in den vielen Stunden, die ich vorne bei ihm verbringe, keinen einzigen. © Christoph Löger

3 Zeit zum Entspannen: Soelve plaudert backstage mit dem Kollegen, der den soeben eingetroffenen Kettcar-Bus lenkt. Sie amüsieren sich über junge Bands, die anfangs im Bus noch wilde Partys feiern, eine Woche später nach den Konzerten aber müde in die Koje fallen. © Christoph Löger

Gedankenprotokoll nach der zweiten Nacht

Auf der Minus-Seite verbucht:

– Ich bin schon jetzt erledigt, in meinem Alltag gibt's nämlich eigentlich keine direkt aufeinanderfolgende Nachtgestaltung mehr, vor allem nicht eine Woche lang.


– Niemand meint es böse, aber ich spüre, dass ich ein Fremdkörper bin und bleibe. Die Grenze zwischen möglichen Freundschaften und notwendiger journalistischer Distanz ist schwer zu ziehen und tut weh.


– Die Leerlauf-Zeiten untertags erinnern in der subjektiv empfundenen Länge an Chemie-Stunden in der Oberstufe.


– Wie machen die das langfristig ohne ausgewachsene Sozialphobie? So gern kann man einander doch als Erwachsener samt Privatsphäre-Bedürfnissen gar nicht haben!


– Mein Bier-Kontingent für dieses Monat wäre nun im Reserve-Bereich angelangt. Die anstehenden Überkapazitäten, die ich freigeben muss, quittiert mein Körper mit vorauseilendem Kopfweh.

Auf der Plus-Seite verbucht:

– Wahnsinn, wie reibungslos ein im Grunde sehr komplexes Vorhaben ablaufen kann, wenn alle Beteiligten einem vermeintlichen Geheimcode folgen, der sich aber auf einen simplen Nenner runterbrechen lässt: kurze, klare Kommunikation samt ausgeprägter Entscheidungsfreudigkeit.


– Als Motorjournalist leide ich an der chronischen Berufskrankheit "schlechter Beifahrer" und vertraue nie jemandem hinterm Lenkrad. Nightliner-Profi Soelve schafft es als erster Mensch überhaupt, dass ich die Kontrolle abgebe und unter seiner Aufsicht zehn Stunden durchschlafe.


– Thees Uhlmann ist privat tatsächlich so, wie man ihn sich vorstellt: norddeutsches Wesen mit ausgeprägtem Hang zum Sprachspiel, mitunter beinhart direkt, aber stets die richtigen Worten zum richtigen Zeitpunkt auf der Zunge.


– Rainer G. Ott und Danny Simons erzeugen mit ihrer menschlichen und organisatorischen Kongenialität in meinem Kopf manchmal das Hollywood-Klischee vom "Vater, den ich nie hatte". Nun: Ich habe aber einen tollen Vater, insofern wirkt das komisch. Eventuell kommt ja schon jetzt das Stockholm-Syndrom zum Tragen…


– Ich befinde mich permanent in einem mir bisher unbekannten Makrokosmos, in dem es rund um die Uhr Abläufe gibt, die ich aus meinem Alltag nicht kenne. Vermutlich fühlt sich mein kleiner Sohn, der gerade die ganze Welt in sich aufsaugt, ähnlich.

Der große Tag in Hamburg

12.000 Menschen werden heute zum Open-air-Festival am Hamburger Großmarkt kommen, um mit dem vormals kleinen Independent-Musiklabel Grand Hotel van Cleef sein 15-jähriges Jubiläum zu feiern. Die Firma, die zuerst eigentlich keiner haben wollte, hat für ihren wichtigsten Tag des Jahres ein schönes Live-Exzerpt des Portfolios gebastelt – allen voran die beiden zugkräftigsten Pferde des Stalls: Thees Uhlmann und Kettcar.

Die kleinen Club-Konzerte in Düsseldorf und Karlsruhe, die wir soeben hinter uns gebracht haben, waren ursprünglich als Generalprobe gedacht, um die Bands nach ihren längeren Bühnenpausen zu entrosten. Hier in Hamburg ist nun das ganz große Kino in gebotener Perfektion vorgesehen.

Womit niemand gerechnet hat, ist das norddeutsche "Schietwetter"…

Feldstraße 36: Musik & Fußball

Das beste Grand Hotel Deutschlands findet sich nicht an einer mondänen Luxusadresse, sondern in einem unscheinbaren Straßeneingang auf St. Pauli in Hamburg. Die Häuserwände in der Gegend sind mit Graffiti und Sprayer-Tags geschmückt, es riecht überall ein bisschen nach getrocknetem Urin, und der Eintritt zur Rezeption erfolgt, wenn man die Bierbänke der benachbarten Imbissbude passiert hat, durch eine jener Glastüren mit Alurahmen, die seit den 1970er-Jahren kein Architekt mit einem Funken Anstand mehr verwendet.

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1 Feldstraße 36: Im Grand Hotel van Cleef kümmert man sich um die tonalen Ergüsse von Uhlmann, Kettcar & Co. Es ist weltweit das einzige "Hotel" seiner Klasse, das weder über Ladezone noch Concierge verfügt.  © Christoph Löger

2 Die Türglocken-Schilder sind ganz offensichtlich als "museum in progress" konzipiert, schließlich wird hier kreativ gearbeitet. Rein darf ich heute nicht. Wie auch? Es sind bis auf mich ja alle unterwegs. © Christoph Löger

3 Einen Steinwurf entfernt: das Millerntor-Stadion des FC St. Pauli, quasi der externe Homeoffice-Bereich der Label-Mitarbeiter.  © Christoph Löger

5 Minuten: die Woche in bewegten Bildern

Sollte Ihnen dieser Text nun zu lang gewesen sein, gratuliere ich gleich einmal dazu, dass Sie trotzdem überhaupt bis hierher gekommen sind. Manche lesen ja heutzutage nicht mehr so gern, hört man. Für die davon Betroffenen gibt es aber ein Schmankerl: Andreas Hornoff, der Haus-und-Hof-Fotograf-und-Filmer des Grand Hotel van Cleef, hat die vergangene Woche in einem kurzen Video zusammengefasst. Sehenswert!

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Epilog

Als jemand, der Zeit seines Lebens den Grundprinzipien des Rock'n'Roll – Musik, Straße und Selbstbestimmung – in ihrer romantisierten Form treu war, fühlte sich die Woche im Bus einer tourenden Band zuerst ziemlich ernüchternd an. In erster Linie sind hier nämlich keine Stars am Werk, sondern verdammt hart arbeitende Menschen, die der alten Idee eines Klischees nachlaufen, das im Ursprung nicht etwa Elvis oder die Beatles selbst fabriziert hatten, sondern der Rattenschwanz dahinter: Medien, Manager, Masse.

Während unserer Tour habe ich vom strapazierten "Sex, Drugs & Rock'n'Roll"-Lotterleben dann auch gar nix gesehen: Bis auf Thees' Keyboarderin Julia Hügel, die des Groupie-Daseins systembedingt gänzlich unverdächtig ist, hat keine Frau den Bus betreten, und die härteste Droge war eine Flasche Jack Daniel's, die am Ende der Woche noch immer halbvoll in der Busküche stand. 

Die wirkliche Härte zeigt sich ganz woanders: Hier reißt sich eine Handvoll Wahnsinniger in Zeiten eines historisch bisher unerreichten Mainstream-Musik-Tiefs seit 15 Jahren jeden Tag alle Extremitäten aus, um mit kleinen Schritten etwas weiterzubringen, das nicht in die Vergangenheit führt. (An dieser Stelle würde mich Uhlmann wohl des Kultur-Pessismismus bezichtigen, den er gar nicht mag) 

Idealismus ist ihr Renn-Benzin, nicht die persönliche Gewinn-Maximierung. Umso beeindruckender, wenn man damit 12.000 Menschen auf einem Platz versammeln kann, die einem Sänger zuhören wollen, der wohl schlechter verdient als der ausgelernte Tischler in der vierten Reihe. 

Ich lege Uhlmann ein Schlusswort in den Mund: "Joa, Handwerk."

tourbus_reportage_2017-08_CL_fazit.JPG Julia Pachler © Julia Pachler
Frei nach Thees Uhlmann: zerschmetternd entzückend, im Frieden der Nacht – Sänger und Autor sagen "Auf Wiedersehen!"

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