Spandex, Bier & Haarspray

Für ein paar Jahre in den 1980ern war "Hair Metal" die erfolgreichste Musikrichtung der Welt. Entstanden ist sie auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles. Was blieb vom Hype? Ich spaziere die Straße entlang und treffe einen Zeitzeugen: Ex-KISS-Gitarrist Bruce Kulick.

Jede Stadt, die auf ihre popkulturelle Historie etwas hält, hat so etwas wie eine "Musikstraße". In Hamburg ist das zum Beispiel die Reeperbahn, wo die Beatles ihre Karriere begannen, noch bevor sie sich in ihrer Heimatstadt Liverpool in der Mathew Street (Nachlese: "Die Stadt der Beatles") die Finger wund spielten. In London wiederum explodierten die "Swinging Sixties" in der Carnaby Street. Und drüben überm großen Teich? Da kann man in Tennessee (Nachlese: "Tennessee im Herzen"), dem geographischen Ursprung von Rock’n’Roll, Country und Blues, auf der Beale Street in Memphis oder auf dem "Honky Tonk Highway" in Nashville lustwandeln.

In dieser Geschichte soll es aber um eine Stadt gehen, die nicht unterschiedlicher zu den oben genannten sein könnte – nämlich die gigantische Megacity Los Angeles: ein Verkehrs-Moloch, rund ums Auto gebaut und ohne natürlich gewachsenes Zentrum.

Keine guten Voraussetzungen eigentlich für Kunst und Kultur. Und doch zieht sich eine Asphalt-Schlange durch die Stadt, deren Nest zwar mitten in Downtown Los Angeles liegt, die ihr Fress-Revier aber – noch tief innerhalb der Grenzen von L.A. – 35 Kilometer in Richtung Westen bis zur Pazifikküste ausdehnt.

Ihr Name: Sunset Boulevard. Ihre liebsten Ausscheidungen in den letzten 50 Jahren: gesellschaftspolitische Revolutionen, die Erfindung des "Go-Go-Girls" – und natürlich unzählige aufstrebende Bands, die in ihrem Gedärm die harte Schule "nach oben" gehen mussten.

Was das alles nun mit einem pickeligen Mühlviertler Teenager, der Anfang der 1990er Jahre in der Schule davon träumte, nur ein einziges Mal selbst die Luft dieser Straße einzusaugen, zu tun hat? Nun ja, lesen Sie selbst…

Meine Geschichte

Sommer 1991, irgendwo in der oberösterreichischen Pampa: Ich sitze mit meinen besten Freunden, den Brüdern A. und M., auf dem Balkon ihres Elternhauses. Bienen summen vorbei, es ist drückend heiß, aus der Ferne hört man Kindergeschrei aus dem Freibad. Eine kleine Dose Bier, die wir vorher verbotenerweise beim Greißler ergattert haben, macht, gut vor den Eltern versteckt, die Runde und wir planen wie alle vernünftigen Teenager die großen Dinge, die nach diesem Sommer auf uns zukommen würden: neue Schule, Oberstufe, Mädels, erste Reisen nach Griechenland ohne Mama und Papa. Auf dem Plattenspieler dreht sich währenddessen die neueste KISS-Scheibe: A. und M. hören Hardrock, ihrem älteren Bruder sei’s gedankt. 

Als behütet-braves Kind, das bis dahin mit EAV und New Kids on the Block sein Auslangen fand, ändert sich bei mir in diesen Ferien und mit dieser Musik alles. Noch nie zuvor hatte ich so geniale Songs gehört. Sie waren laut, melodiös, und die Optik von Bands wie KISS, Mötley Crüe oder Cinderella wirkte unfassbar anziehend. Ab nun würde ich mein Leben also dem harten Gitarrensound widmen, das stand fest. Und ganz besonders einem geschminkten Quartett namens KISS.

Es hat dann nicht lang gedauert, und wir wurden zahlende Mitglieder der KISS Army – dem Fanclub jener Band, die bis heute wie keine andere mit ihren Anhängern unfassbar viel Geld zu verdienen weiß. Mangels besseren Wissens war uns das damals in Prä-Internet-Zeiten natürlich egal, wir warteten nur gespannt auf das monatlich zugesandte Fan-Heft mit allen Band-Neuigkeiten. Die Zeilen in diesem Magazin verschlangen wir dann gemeinsam, träumend von "unserer" Band. Und wohl wissend, dass diese so weit weg war von unserem Kaff im Mühlviertel, dass die Wahrscheinlichkeit einer Chance auf ein persönliches Treffen sehr, sehr endend wollend war.

Hätte ich damals gewusst, was mir Jahrzehnte später bevorstehen würde, ich hätte wohl nur hilflos grinsen können…

Dreams are the way to know<br />
Just what our future holds<br />
Fate's in the cards we play<br />
So let the journey begin.

Bruce Kulick – "Life"

Seine Geschichte

Bruce Kulick wurde im Dezember 1984 als neuer Gitarrist von KISS vorgestellt. Für ihn war es nicht unbedingt der beste Moment für den Eintritt ins&nbsp;KISS-Universum: Nur ein Jahr zuvor hatten sich seine neuen Chefs&nbsp;– der notorisch mühsame Finanz-Mogul Gene Simmons und dessen sensibler Gegenpart Paul Stanley – dazu entschlossen, nach 10 Jahren maskierter Karriere in einer Aufsehen erregenden Live-Übertragung des ehemaligen Musiksenders MTV die berühmte Schminke abzulegen. Ab sofort würden sich KISS also nur mehr auf die Musik minus Brimborium beschränken&nbsp;– kein einfaches Unterfangen in jenen Tagen, als gleichzeitig tausend andere Hardrock-Combos aus dem Schoß der eingangs erwähnten Sunset-Boulevard-Schlange krochen: große Namen wie Guns N' Roses, Mötley Crüe oder Bon Jovi etwa.

Bruce Kulick gilt in eingefleischten Fan-Kreisen bis heute zwar nicht als berühmtester, sehr wohl aber bester Gitarrist der KISS-Bandgeschichte. Zudem fällt sein Name unweigerlich immer dann, wenn man von&nbsp;Referenz-Gitarristen der Hair-Metal-Ära liest – Saite an Saite zum Beispiel mit Eddie van Halen oder Slash von Guns N' Roses. Als einziges Langzeit-Mitglied der Band&nbsp;trug Kulick in seinen 12 KISS-Jahren außerdem nie die Corporate-identity-Schminke des Arbeitgebers, dafür aber mit seinem unverwechselbaren Gitarren-Sound wegweisend dazu bei, KISS erfolgreich in die für Hardrock verkaufstechnisch schwierige&nbsp;Zeit der Grunge-Ära Mitte der 1990er Jahre zu hieven.

Sehen wir ihm doch kurz bei der Arbeit zu: Wir schreiben das Jahr 1988, und es ist die erste von zwei ausverkauften Nächten in Tokios größter Konzerthalle – der "Budokan Hall". Zehntausende&nbsp;Japaner lauschen einem schlaksigen Typen, wie er&nbsp;mit seinem Werkzeug Liebe macht. Es ist eine Zeit, als Instrumenten-Solos noch seeeeehr lange dauern durften und die üblichen Bühnen-Outfits&nbsp;am absoluten Tiefpunkt der Musikgeschichte angelangt waren (dazu noch später)…

(Für Ungeduldige: Mr. Kulick's Glanzleistung startet bei 05:22)


Unsere Geschichte

Vorspulen ins Jahr 2013: Ich muss beruflich erstmals nach Los Angeles, um für den ÖAMTC von der dortigen Autoshow zu berichten. In der Vorbereitung auf die Reise taucht die Idee auf, mir vor Ort einen unstillbaren Teenie-Traum zu erfüllen. Sie ahnen es: Ich will einen "KISS" treffen.

In der Folge verbringe ich endlose Stunden im Internet, um einen Kontakt herauszufinden. Danach schreibe ich unzählige E-Mails, bombardiere diverse Manager und Agenturen mit herzzerreißend ehrlichen, meist viel zu langen, viel zu persönlichen und vor allem viel zu unprofessionellen Konvoluten wegen meines Anliegens. Was zurück kam? Wochenlang gar nichts.

Ich hatte schon aufgegeben und meine Bemühungen vergessen, als eines Nachts ein Mail mit sehr wenig Inhalt kam: "Hi Christoph! Sure, let’s do that. Where and when? Best, Bruce" stand darin.

Der Schnappatmungs-Phase folgte ein nervöser Reality Check: 22 Jahre, nachdem wir als Teenager in einem heißen Sommer auf einem Balkon im Mühlviertel davon geträumt hatten, war es für mich nun soweit.

Das Resultat: Mein erstes Interview mit Bruce Kulick, erschienen im Juni 2013 im gedruckten auto touring – und&nbsp;nachzulesen hier.

Pleased to meet you again, Mr. Kulick!

Nach diesem Interview vor vier Jahren dachte ich, dass es das nun war mit meinem KISS-Moment. Einen Traum lebt man schließlich nur einmal. Allerdings: Zwischen Bruce und mir entwickelte sich danach eine sporadische Brieffreundschaft. Er schrieb mir, als er plante, Tirol zu besuchen. Ich schrieb ihm, als mein kleiner Sohn seine erste KISS-CD bekam.

Und irgendwann letzten Herbst habe ich ihm auch erzählt, dass ich demnächst wieder in Los Angeles auf der Automesse sein würde und im Zuge dieses Aufenthalts gerne eine Reportage über die 1980er-Jahre auf dem Sunset Boulevard machen möchte – weil ich eben als Jugendlicher viel zu jung und zudem 12 Flugstunden entfernt war, um damals vor Ort dabei gewesen zu sein. Und dass mich das bis heute fertig macht, nicht gespürt, gerochen und gehört zu haben, was dort einst los war. Kurzum: Ob wir uns nicht noch einmal treffen könnten, damit er mir etwas über diese verruchte "Decade of decadence" erzählt – als mitten im Trubel gewesenes Mitglied der damals größten Band der Hardrock-Welt…



Bruce Kulick – "BK3" – erhältlich direkt (und signiert, auch Vinyl) über Bruce's Website kulick.net&nbsp;oder via Amazon.

Reunion

Wieder kam ein knapp formuliertes Mail: "Sure. Let’s do that. Where and when?" Was für Foto-Markus und mich wiederum bedeutete: ab in den Flieger.

Landung in L.A, dann vom Flughafen in Richtung West Hollywood das übliche "ins Land einistauen". Wir sind trotzdem eine Stunde vor Bruce beim mit Bedacht gewählten Treffpunkt: dem "Rainbow Bar &amp; Grill". Hier und nirgendwo anders auf dem Sunset Boulevard traf und trifft sich die Musik-Oberliga im Zeichen der raueren Töne seit vielen Jahrzehnten: Das Lokal war John Lennons zweites Wohnzimmer in Los Angeles, Schauplatz im ausufernden Musikvideo zum Guns N' Roses-Song "November Rain", in erster Linie aber die Herzensheimat der im Vorjahr verstorbenen Metal-Ikone Lemmy.

Wir werden später noch die geheimen Katakomben des "Rainbow" erkunden und Lemmy Tribut zollen, jetzt taucht aber zuerst einmal Bruce Kulick in seinem Lexus auf, drückt dem Valet-Parkservice die Autoschlüssel in die Hand und setzt sich zu uns an den Tisch im Gastgarten. In seiner rechten Hand: ein Gitarrenkoffer, eh klar.

Er wäre schon lange nicht mehr im "Rainbow" gewesen, sagt er zur Begrüßung. Und hätte noch viel länger nicht mehr über die Hoch-Zeit des Hardrock hier in den "Eighties" nachgedacht, die mir als Fan soviel bedeuten und für ihn als Teil des Ganzen im Nebel der Geschichte schlicht verklärt wurden. Er wäre aber bei der Fahrt hierher im Auto in sich gegangen und ein paar interessante Details seien&nbsp;ihm durchaus eingefallen, meint er und grinst dabei.

Na dann, Mr. Kulick. Erzählen Sie mal…

Bruce Kulick über…

Was ist "Hair Metal" eigentlich?

Die kompakteste Erklärung findet sich auf Wikipedia:

"Hair- oder Glam-Metal ist ein Subgenre des Heavy Metal und Hard Rock, das vor allem in den 1980er-Jahren populär war und das grelle Erscheinungsbild des Glam Rock mit Powerchord-basiertem, sogenanntem 'Party Metal'&nbsp;kombinierte. Als typisch für Glam-Metal-Bands gelten der Liedtypus der Power-Ballade, virtuos gespielte Gitarrensoli sowie die stark sexualisierten Liedtexte, gepaart mit einem offen zur Schau gestellten Hedonismus."

Hitparade: Die 10 wichtigsten Hairmetal-Songs

Vorweg: Wie bei derlei Listen üblich, erhebt auch diese keinerlei Anspruch auf objektive Endgültigkeit, sondern entspringt einer (diesfalls: meiner) subjektiven Selektion. Sie sollte aber wohlsortiert genug sein, um einen akustischen Überblick in den damaligen Sunset-Boulevard-Wahnsinn zu gewähren.

Blättern Sie sich durch die kommentierten Screenshots von Platz 10 zu Platz 1, danach gibt’s natürlich auch die Links zu den "Hair"-sträubenden Videos…

Fernsehen zum Gernsehen: unsere&nbsp;Top-10-Jukebox zum flotten Klicken…

Platz 10: Cinderella – Gypsy Road
Platz 09: W.A.S.P. – Wild Child
Platz 08: Ratt – Round And Round
Platz 07: L.A. Guns – The Ballad Of Jayne
Platz 06: Van Halen – Jump
Platz 05: Poison – Every Rose Has It’s Thorn
Platz 04: Alice Cooper – Poison
Platz 03: KISS – Tears Are Falling
Platz 02: Guns N’ Roses – November Rain
Platz 01: Mötley Crüe – Kickstart My Heart

Zeit, spazieren zu gehen…

Sunset Boulevard im November 2016: Wir nehmen uns vor, die musikhistorisch relevanten drei Kilometer der Straße – höchst unüblich in dieser Stadt – zu Fuß abzumarschieren. Eine Richtung auf der linken Straßenseite, zurück auf der rechten. Wir werden wohl als Europäer auffallen.

Schnell wird uns klar: Vom High-Life der 1980er ist, zumindest untertags, nur mehr wenig zu spüren. Der "Strip" ist heute eine mehrspurige Asphalt-Ader, befüllt mit einer Mischung aus sauteuren Autos auf dem Weg nach Beverly Hills einerseits und halbkaputten Fahrzeugen andererseits, deren Besitzer hier im Durchzugsgebiet zwischen Arm und Reich wohnen. Schlicht eine Straße, von denen es gar zu viele in den Metropolen der USA gibt. Wenn man nicht genau hinschaut, könnte man den Sunset Strip vorschnell in die Schublade mit dem Post-it-Vermerk "Vergiss es" legen.

Nur: Wir schauen bei unserem Spaziergang genau hin. Und dann tun sich da Motive und Geschichten auf, die irrer nicht sein könnten: Ein Luxus-Hotel, das es satt hatte, dass die Rockstars ständig Fernseher vom Balkon schmissen, und deshalb die komplette Fassade mit Panzerglas geglättet hat? Check.

Das berühmteste Plattengeschäft der Welt, das nicht überleben konnte, obwohl Slash dort als Sortierer gearbeitet hat und mit seinem Buddy Axl Rose in der Pause auf dem Parkplatz davor die größte Band der Stadt gegründet hat? Check.

Und natürlich die großen Tragödien des Sunset: zum Beispiel der Platz vor dem Lokal, wo sich Jung-Schauspieler River Phoenix vorab seiner prosperierenden Zukunft beraubte. Auch Check, leider.

Folgen Sie uns unauffällig…

Ein Tag auf dem Sunset Boulevard

Sunset-Gott Ian Fraser "Lemmy" Kilmister

Er war der ungekrönte König des Sunset Boulevard. Der Chef aller Rockbands, den selbst die egozentrischsten Kollegen nie in Frage stellten. Es hieß, wenn dereinst der Atomkrieg über uns käme, würden nur zwei Spezies auf der Erde überleben: Kakerlaken – und eben Lemmy. So unverwundbar erschien der stets mürrische Engländer, obwohl er seinem Körper jahrzehntelang nicht viel mehr als Tabak, Cola-Whisky und Amphetamine zuführte, während er Nacht für Nacht mit seiner Genre-prototypischen Band "Motörhead" wie ein Fels auf der Bühne stand und den zeitlosen Klassiker "Ace Of Spades" (sensationelles Video, Anm.) ins Mikro gurgelte.

Lemmy Kilmister starb am 28. Dezember 2015 an Prostata-Krebs. Von der Unsterblichkeit blieben ihm trotzdem unglaubliche 70 Jahre.

Backstage im Rainbow Bar & Grill

Abschied

Angesichts des eingangs erwähnten Traums: Für dieses Foto hätte der Autor in jungen Jahren ein (oder wahrscheinlich sogar beide) Ohrläppchen hergegeben. Aber: Glauben Sie bloß nicht alles, was von jemand anderem über Träume in Los Angeles geschrieben wird – auch mir und diesem Artikel nicht. Fliegen Sie einfach am besten selbst hin und basteln Sie sich Ihr eigenes L.A. und Ihren eigenen Soundtrack dazu – das ist und war immer der Sinn und die Basis dieser Stadt.