Todesfalle Baum
Viele Straßen verhängen schon für kleine Fahrfehler die Höchststrafe. Ein Polizeioberst kämpft dagegen an und fordert die fehlerverzeihende Straße.
Keine Frage, der Mann ist mit viel Leid konfrontiert: Oberst Heinrich Kirchner, Bezirkspolizeikommandant in Gänserndorf (NÖ), führt seit 13 Jahren eine schreckliche Statistik. In diesem Zeitraum verloren in seinem Bezirk 50 Menschen ihr Leben an frei stehenden Bäumen am Straßenrand. Von Schwerverletzten gar nicht zu reden.
"Ich kann und will mich nicht damit abfinden, dass ein knapp am Fahrbahnrand gepflanzter Baum das Todesurteil für jemand bedeuten kann, der plötzlich auftauchendem Wild ausweicht oder unvermutet auf eine rutschige Stelle trifft. Oder Fehler begeht, die anderswo für Leben und Gesundheit ohne Folgen bleiben", sagt Kirchner beim Lokalaugenschein im Marchfeld.
Die L4 zwischen Lassee und Loimersdorf ist eine ebene Strecke, mit 51 Bäumen auf 6,4 Kilometern keine der klassischen, schützenswerten Alleen. Aber praktisch alle vier Kurven sind mit Bäumen bestückt. Auch jene, in der Alex E. (38) am 6. Jänner mit seinem Dacia Sandero tödlich verunglückte. Am Baum mit der Registrierungsnummer 102.
Kirchner hat begonnen, Unterschriften gegen Nach- und Neubepflanzungen am Straßenrand zu sammeln. Er fand bis dato Unterstützung von mehr als 300 Menschen – von Rettungskräften, Ersthelfern und Angehörigen von Verunglückten. Schön langsam scheint sein Appell an die NÖ-Straßenbaudirektion zu fruchten: Wenn neu gesetzt wird, so soll dies künftig nur im Einvernehmen mit den Bezirkshauptmannschaften, der Polizei, der Straßenbaudirektion und den Gemeinden erfolgen. Und bei Neupflanzungen soll eine Grenze von zwei Metern zum Straßenrand eingehalten werden.
Kirchner spürte aber auch Gegenwind: Das Thema polarisiert. "Selber schuld, wenn zu schnell gefahren wird, es sind die Jungen, die zu leichtsinnig sind, und oft ist auch Alkohol im Spiel", sind die Argumente, die sich Kirchner anhören muss. Die Fakten sehen anders aus: Die Verunfallten sind im Schnitt 38 Jahre alt, oft müde, abgelenkt, tatsächlich oft zu schnell, aber selten alkoholisiert.
Kirchner kontert: "Wenn niemand Fahrfehler machte, dann bräuchten wir auch keine Sicherheitsgurte. Wer war noch nie kurz abgelenkt oder etwas zu schnell unterwegs?"
Einen Faktor für die Unfallhäufigkeit sieht Kirchner in der stark steigenden Einwohnerzahl in seinem Bezirk. Es gäbe zwar noch halbwegs leistbaren Wohnraum, aber man habe versäumt, in die Straßen-Infrastruktur zu investieren.
Unterstützung bekommt er diesbezüglich auch von Deutsch-Wagrams Bürgermeister Fritz Quirgst, der vehement für den Bau der geplanten S8 eintritt, die seine Gemeinde vom täglichen Verkehrsinfarkt erlösen soll – und viele vorm Ausweichen auf enge, oft in schlechtem Zustand befindliche mit Bäumen gesäumte Nebenstraßen.
Das Thema polarisiert auch in Sachen Natur- und Umweltschutz – Stichwort Baum-Mord. "Aber es geht hier nicht um historische Alleen oder das Fällen straßenbegleitender Bäume", stellt ÖAMTC-Verkehrstechniker David Nosé klar und erläutert: "Es geht viel mehr darum, die Folgen der Fehler, die Menschen machen, durch die Straßeninfrastruktur zu minimieren."
Zu einer fehlerverzeihenden Straße gehöre auch das Freihalten und Absichern von Objekten im Nahbereich der Fahrbahn – und das sind nicht nur Bäume, sondern auch Mauern, Durchlässe und Widerlager von Brücken.
Fehlerverzeihende Straße als Lösung
ÖAMTC-Verkehrstechniker David Nosé sagt: "Wer von der Straße abkommt und mit seinem Fahrzeug auf einen Baum trifft, zieht sich häufig schwerste oder tödliche Verletzungen zu. Schuld daran ist der schmale Querschnitt der Bäume, die tief ins Fahrzeug eindringen. Die meisten Baum-Unfälle sind durch die Lenker selbst verursacht. Aber Fehler dürfen nicht mit der Höchststrafe bestraft werden. Primäres Ziel ist es, Unfälle zu vermeiden und Unfallfolgen zu mindern. Eine fehlerverzeihende Straße mit hindernisfreien Seitenräumen oder Leitschienen kann das schaffen."