Die grüne Hölle der Steiermark
Teil 4 unserer Serie "Autoland Österreich": Wir erklettern mit einem Magna-Testfahrer in einer G-Klasse den Schöckl.
So entspannt hat dieser Tag begonnen, denke ich zwischen zwei gepressten Atemzügen, als wir mit für meinen Geschmack definitiv nicht angepasstem Tempo über hüfthohe Gesteinsbrocken talwärts donnern und der Schotter in den Radkästen prasselt. Ich wimmere auf der Rückbank leise, während meine Bandscheiben die Party ihres Lebens feiern. Die tiefen Abgründe einen halben Meter neben uns tun das ihre zur süßen Angst, die mich gerade ein bisschen überkommt.
Meine Blicke suchen Markus, unseren Fotografen, um das erlebte Leid zu teilen, aber der hat vorne am Beifahrersitz gerade selbst zu kämpfen: Die weißen Knöchel seiner Hand umklammern den Griff über dem Handschuhfach, in der anderen hält er seine Kamera. Sein Körper hüpft auf und ab, manchmal schlägt er auch mit dem Kopf am Dachhimmel an.
Neben Markus sitzt derweil ein offensichtlich tiefenberuhigter Herr am Volant, der versucht, uns während des Wahnsinns wohlmeinende und bestimmt auch interessante Worte zu vermitteln, die bei uns aber nicht ankommen, weil die Geist-Augen-Koordination momentan im Notprogramm läuft.
Der Name des Fahrers: Hans-Jürgen Erler. Seine Expertise ist der Grund, warum wir heute hier sind. Am Schöckl, dem Hausberg von Graz.
Ein Geländewagen, der am Schöckl scheitert, hat es gar nicht verdient, so genannt zu werden.
Hans-Jürgen Erler, Testfahrer Magna Steyr
Magna Steyr und der Schöckl
Hans-Jürgen ist erfahrener Testpilot und arbeitet für Magna Steyr. Dieses Unternehmen, der größte Automobilhersteller Österreichs mit Sitz in Graz, sichert nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern noch rund 10.000 weitere und gilt seit jeher als international angesehenes Zentrum für Fahrzeugentwicklung. Hersteller wie Mercedes-Benz oder BMW greifen hier auf das steirische Allrad-Know-how zurück, andere lassen in den Werkshallen überhaupt gleich die Zukunft produzieren – Jaguar zum Beispiel den rein elektrischen I-Pace.
In unserer Geschichte soll es heute aber ausschließlich um den vielleicht größten Vorteil des Unternehmens gehen, zumindest was die hauseigene 4WD-Kompetenz angeht: die eigene Natur-Teststrecke im Vorgarten. Den Schöckl.
1.445 Meter hoch ist der Grazer Hausberg, knapp sechs Kilometer lang der für den öffentlichen Verkehr gesperrte Weg vom Tal zum Gipfel, der Steigungen von bis zu 60 Prozent und Seitenneigungen bis zu 40 Prozent enthält. Die Strecke gilt in der Offroad-Szene für Mensch und Technik als eine der größten Herausforderungen weltweit und steht dem berühmten Rubicon Trail in Kalifornien, wo die Marke Jeep ihren Produkten nach erfolgreicher Bewältigung den Segen erteilt, um nichts nach.
Vielmehr sei "nirgendwo sonst als hier auf so kurzer Distanz alles vereint, was einem Geländewagen das Leben möglichst schwer macht", hören wir, als wir über einen alten Baumstumpf hopsen.
Die G-Klasse: seit jeher Kernöl im Tank
Zurück ins Auto: Wir sitzen in einer Mercedes G-Klasse der letzten Generation. Und zwar einem Exemplar, das offensichtlich schon einiges erlebt hat. Von 50.000 Kilometern berichtet das Zählwerk – ein Wert, der dieses traditionell recht unkaputtbare Fahrzeug beim normalen Gebrauch in den typischen Kunden-Revieren Kitzbühel, Moskau oder Dubai (aktueller Basispreis immerhin 117.900 Euro) üblicherweise nicht wirklich kratzt.
Bloß: Dieser Kandidat hat während dieser 50.000 Kilometer fast ausschließlich den Schöckl gesehen. Sprich: Er fristet ein extrem mühsames Dasein als Erprobungs-Gerät.
Etwa 5.000 Kilometer muss eine G-Klasse vor der Serienfertigung am Schöckl problemlos abspulen. "Das entspricht rund 400.000 Kilometern unter normalen Alltagsbedingungen des Kunden", sagt Hans-Jürgen. Wir rechnen im Kopf mit und staunen über das Ergebnis: ganze vier Millionen Kilometer hätte unser Untersatz demnach also schon hinter sich. Angesichts dieser Erkenntnis interpretiere ich als penibler Motorjournalist das zeitweilige Ächzen im Karosserie-Gebälk dann auch nicht als Mangel, sondern als Zeitraffer-bedingte Alterserscheinung. Und vor dem Alter hat man Respekt.
Testfahrer-Alltag
Hans-Jürgen absolviert pro Tag bis zu acht Umläufe rauf und runter. Ob er in all den Jahren, seit er das macht, einmal nachgezählt hat, will ich wissen: "Nein, aber ich war wohl schon ein paar tausend Mal oben", lacht er, als wir zum Start seiner Hausstrecke fahren. Ich ahne noch nichts, später wird mich diese Aussage aber beruhigen.
Noch kurz vorweg: Während wir nun langsam den Anstieg beginnen, weist Hans-Jürgen unseren Foto-Markus darauf hin, dass er es tunlichst vermeiden solle, etwaige entgegenkommende Autos zu fotografieren. Zweimal passiert das unterwegs dann auch – als erste "Fremdlinge" sehen wir hautnah die neue G-Klasse, die während ihrer letzten Testfahrten im Unterholz an uns vorbeihüpft wie aufgescheuchtes Wild. Wir wissen da noch nicht, dass Mercedes kurz nach unserem Besuch dieses Video veröffentlichen wird…
Willkommen in Hans-Jürgens Büro
Exkurs: Teststrecken-Historie
Warum Hans-Jürgen und seine Magna-Kollegen tagtäglich mit teils geheimen Prototypen den direkten Aufstieg gen Gipfelkreuz angehen dürfen und Sie, liebe Leserinnen und Leser, nicht, entspringt übrigens einem historischen Deal: Bereits im Sommer 1909 kletterte ein Puch 18/22 HP erstmals den Schöckl hinauf, 1913 folgte die erste Bergfahrt im Puch-Alpenwagen ohne Zuhilfenahme von Ochsen oder Ketten, danach holten sich die legendären Konstrukte Pinzgauer und Haflinger oben ihre Gelände-Absolution. Deren Erprobung schließlich führte in den 1950er-Jahren zu einer Sondergenehmigung von Seiten des Eigentümers Graf zu Stubenberg, die dem Hersteller erlaubte, seinen Privatgrund fortan zu Testzwecken zu nutzen.
Ein Gentlemen’s Agreement, das bis heute gilt.
Es geht bergab mit uns