Mein Cornwall
Serien-Start: auto touring stellt Reiseziele vor, die den Redakteuren/-innen persönlich wichtig sind. Christoph Löger beginnt im Südwesten von England.
Als ich 1990 zum ersten Mal hier war, war ich 13 Jahre alt und hatte noch keine Ahnung, was Großbritannien im allgemeinen und seine Grafschaft Cornwall im besonderen mit mir in den folgenden Jahrzehnten anrichten würde. Etwa, dass dieses Land meinen Charakter seitdem zu gleichen Teilen so geprägt hat wie es sonst nur Familie und Freunde taten. Oder dass es mein Reiseverhalten, meinen Musikgeschmack und das, was ich landschaftlich heute als schön empfinde, drastisch und nachhaltig eingeschränkt hat – einfach, weil mir recht schnell bewusst wurde, dass es nicht viel besser werden konnte als hier.
Kurzum: Mit Cornwall und mir verhält es sich so wie mit einem alten Ehepaar, das sich im Teenager-Alter gefunden hat und bis zum Lebensende nicht mehr voneinander lassen wird – schlicht, weil man das Beste ja bereits an seiner Seite weiß und deshalb auch keinerlei Sinn darin sieht, sein Glück rastlos anderswo zu suchen. Für mich gilt seit nunmehr 30 Jahren deshalb: Es gibt keinen Platz auf der Erde, der mich so sehr Ich sein lässt wie dieser Zipfel Land am südwestlichen Ende Großbritanniens.
Vorweg vielleicht: Die Geschichte, in die Sie soeben eingetaucht sind, soll ausdrücklich kein Reiseführer sein, der nur Tipps und Sehenswürdigkeiten abhandelt. Dafür gibt es gute einschlägige Reiseliteratur. Vielmehr möchte ich mit diesen Zeilen eine ganz persönliche Liebeserklärung abgeben.
Klar ist, dass jeder Reisende eine Region subjektiv anders erlebt, auch andere Vorstellungen davon hat: Im Falle Cornwalls könnte das etwa eine Rosamunde-Pilcher-Pilgerreise sein, ein Wander-Urlaub oder der Traum von kilometerlangen einsamen Sandstränden. In meinem Fall ist es wohl eine Mischung aus allem…
Es ist ein Ritual: Nach der Ankunft führt der erste Weg ins Pub.
Christoph Löger, Redakteur
Liebe auf den ersten Trip
Im erwähnten Sommer 1990 sind meine Eltern und ich von Österreich aus mit dem Zug angereist: von Linz nach Oostende in Belgien, dann mit der Fähre über den Ärmelkanal nach Dover und von dort weiter über London nach Penzance, dem cornischen Endbahnhof. Als Kind aus dem ländlichen Mühlviertel war für mich schon der Weg ein Ziel – im Morgengrauen erstmals die mächtigen weißen Klippen von Dover zu sehen, beim Zwischenstopp in der mir unüberschaubar scheinenden englischen Hauptstadt das multikulturelle Treiben zu spüren, mit meinem Vater im Pub Dart zu spielen und dabei Ginger Ale trinken zu dürfen: Alles war neu und fühlte sich unglaublich gut an.
Meine Pubertät war auch noch nicht richtig ausgebrochen, demnach konnte ich meine Eltern sogar als willkommene Reisepartner akzeptieren statt als Endgegner eines Computerspiels, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.
Mein erster Eindruck von Cornwall als Halbwüchsiger hat sich seit dem damaligen Sommer bis heute nicht geändert: Obwohl ich in der Zwischenzeit mindestens einmal, oft auch zweimal jährlich wiederkomme, schaltet mein Kopf stets in den gleichen sentimentalen Modus, wenn ich südwestlich von London die Autobahn M3 verlasse und auf die Landstraße A303 abbiege. Diese ist meine ganz persönliche "Heimstrecke", endet sie doch nach durchschnittlich fünf Stunden Autofahrt dort, wo mein Herz zuhause ist.
Über die Jahrzehnte hat sich die Art meiner Besuche natürlich verändert: Waren es als Kind noch die klassischen Eltern-Urlaube, mutierten die Cornwall-Reisen während meiner Teenager- und Studentenzeit zu ausgiebigen Party-Touren mit Freunden, in denen wir in Musik-Clubs den Höhepunkt der "Britpop"-Welle feierten. Und heute? Da bin ich selbst Vater eines neunjährigen Sohns und zeige ihm dort meine Kindheit. Es stimmt also: Geschichte wiederholt sich.
Was sich seit 1990 nicht geändert hat, ist das Ankunfts-Ritual: Sobald wir ausgepackt haben, führt der erste Weg in den Gastgarten eines schönen Pubs. Das "public house" ist nicht nur für Briten eine soziale Institution, sondern auch für mich eines der wichtigsten Dinge, warum ich dieses Land so liebe. In einem traditionellen Pub ist es nämlich völlig egal, ob man in Anzug, Arbeitsgewand oder Touristen-Outfit eintritt – vielmehr ist es ein gesellschaftlicher Gleichrichter, der eine ganze Nation eint.
Die Zufalls-Gespräche, die ich in cornischen Pubs über die Jahre führen durfte, während ich an der Bar das nächste "Pint" holte, waren oft überraschend: Einmal war's ein lokaler Fischer, der mich in der Nacht darauf auf seinem Kutter zum Fang auf den Atlantik mitnahm, einmal ein älterer Schauspieler, der in den ersten Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen regelmäßig einen Polizisten verkörperte, einmal ein berühmter Musiker, den ich niemals erkannt hätte, wären wir nicht kurz vor "last orders" ins Gespräch gekommen.
Cornische Streiflichter, Teil 1
Exkurs: das "Bed and Breakfast"
Wenn mich Bekannte fragen, wo sie in Cornwall am besten übernachten sollen, ist meine Antwort stets die gleiche: in einem B&B natürlich. Nirgendwo sonst schläft sich's nämlich so gut wie in einer der meist mit enger Familienanbindung geführten Pensionen. Strecke ich frühmorgens unter der dicken Tuchent gähnend alle Viere von mir, während bereits der Duft eines selbst gemachten "full English breakfast" aus der Küche darunter ins Zimmer wabert, beginnt für mich erst ein typischer Tag in Cornwall…
Fifty Shades of Green
Und dann sind da natürlich die Landschaft und das Klima Cornwalls: Obwohl beruflich weit gereist, kenne ich keine Gegend, die das ganze Jahr über gleichzeitig so grün ist, so unfassbar gut riecht und alles auf einem Fleck vereint, was ich gern habe – endlos lange (und bei Ebbe vor allem auch breite) Sandstrände, dichte Wälder, sanfte Hügel, totale Einsamkeit.
Von jedem Ort Cornwalls aus gelangt man außerdem in unter einer Stunde Fahrzeit zum Meer, und selbst zur Hochsaison im Sommer ist es überhaupt kein Problem, in kleinen Buchten komplett allein zu sein, sofern man eine kurze Wanderung über die Klippen in Kauf nimmt.
Und das Wetter? Nun, Cornwall mag zwar in England liegen, von dem die Mär besagt, dass man an einem Tag alle vier Jahreszeiten erleben könne. Allerdings: Mit dem Rest der Insel hat die Grafschaft diesbezüglich nur wenig gemeinsam – dank Golfstrom gedeihen in den Küstenregionen sogar Palmen. Bis heute quittiere ich deshalb die ewige Frage von Bekannten, warum ich im Sommer ausgerechnet an einen Ort fahre, an dem es "ja nur regnet", mit einem milden Lächeln.
Umgekehrt verstehe ich schließlich auch nicht, warum man freiwillig auf überfüllten Stränden in der Gluthitze schmoren möchte – jedem Tierchen sein Plaisierchen, wie's so schön heißt. Ich erinnere mich zum Beispiel gut an den Jänner 2007, als ich mir im kleinen Küstenort Looe alleine ein Zimmer gemietet hatte, um in Ruhe das Konzept meiner Diplomarbeit zu schreiben: Während Familie und Freunde daheim in Österreich bei Minusgraden bibberten, saß ich in diesem Winter bei 20 Plusgraden im T-Shirt am Meer und konnte dank weitem Blick auf den Atlantik die Gedanken fliegen lassen.
Auch an den Rückweg erinnere ich mich, allerdings mit schlechtem Gewissen: Wenige Tage später sollte ich nämlich, damals noch Musikjournalist, in München ein Interview mit der englischen Musikerin Kate Nash ("Foundations") führen. Und weil ich wusste, dass sie auf Touren außerhalb ihrer Heimat immer eine bestimmte Chips-Marke vermisste, wollte ich ihr als Geschenk ein Sackerl davon mitnehmen. Das Problem: Auf halber Strecke zum Londoner Flughafen Heathrow geriet ich in einen Rekord-Stau, der sich auch nach mehreren Stunden nicht auflösen wollte. Der Hunger wurde immer größer, und das Chips-Sackerl war die einzige Verpflegung, die ich im Auto mithatte. Resultat: Ms. Nash hat von meinen egoistischen Fressgelüsten niemals etwas erfahren, die Scham beim Futtern war aber immens.
Auch das ist etwas, das mich dieses Land gelehrt hat: die mitunter zwanghaft anmutende britische Höflichkeit. Wie im Königreich üblich, verzichte ich auch im österreichischen Straßenverkehr gern und oft auf meinen Vorrang, wenn es der Situation dienlich ist. Außerdem suche ich bei uns in Geschäften und Bars ständig nach Schlangen, an denen ich mich hinten anstellen kann, weil's so für alle schneller ginge. Und ich entschuldige mich ganz automatisch, wenn ich in der U-Bahn oder am Gehsteig angerempelt werde. Allesamt hierzulande wohl übertrieben wirkende Verhaltensregeln, die ich auf die vielen Insel-Aufenthalte zurückführe.
Cornische Streiflichter, Teil 2
Wehmut
Heuer werde ich "mein Cornwall" wegen Corona zum ersten Mal seit 1990 nicht besuchen können. Zu unsicher erscheint momentan die Situation in Großbritannien. Die Vorstellung, jetzt im Sommer mit meiner Familie nicht stundenlang über die Klippen wandern zu können, am Strand Sandburgen zu bauen, zum Sonnenuntergang im Pub-Garten zu sitzen und dem Geschrei der Möwen zu lauschen, tut weh. Die Sehnsucht führt sogar so weit, dass ich mir für unseren Balkon in Wien eine originale gebrauchte Pub-Sitzgruppe aus Cornwall bestellt habe, um zumindest ein kleines Stück Herzensheimat an meiner Seite zu wissen. Es muss wohl Liebe sein.
Zum Schluss: 10 persönliche Lieblings-Tipps
1) Der Hafen von Porthleven. Dort gibt's die komplette Rosamunde-Pilcher-Kulisse, nicht aber die dazugehörigen Pilgerinnen und Pilger. Zu finden hier auf Google-Maps.
2) Das versteckteste Dorf-Pub. Im "Black Swan" im winzigen Örtchen Gweek sollte man Fish & Chips essen. In Gehweite: Das "Cornish Seal Sanctuary", wo man zuschauen kann, wie verwaiste oder verletzte Robben gesund gepflegt werden – toller Tipp für Kinder!
3) Fisherman's Friends. Der Film aus dem Jahr 2019 (hier geht's zum deutschen Trailer) erzählt die wahre Geschichte cornischer Fischer, die in ihrer Freizeit Musik machen, um ein Pub zu retten – und damit berühmt werden. Die Männer singen übrigens noch immer live – in der Regel einmal pro Woche (siehe Website).
4) Für Musikfans. Die (passend benannte) Surfer-Bar "Watering Hole" in Perranporth veranstaltet im Sommer regelmäßig Open-Air-Konzerte berühmter Bands, die dort vor kleinem Publikum spielen. Vor zwei Jahren hat im einzigen Hotel des Orts diese tolle Künstlerin im Zimmer neben mir gewohnt. Vor ihrem Auftritt haben wir im Gastgarten ein Bier getrunken und sind dann gemeinsam über den Strand zur Bühne spaziert.
5) Cornish Pasty. Wer dieses typische Mahl im Backteig nicht vor Ort genossen hat, war nicht richtig in Cornwall. Die handlichen Köstlichkeiten gibt's mit allen erdenklichen Füllungen, am besten schmecken sie mir von der "Philps Bakery" in Marazion.
6) Eden Project. Das architektonische Biosphären-Kuppel-Wunder kommt zwar auch in allen normalen Reiseführern vor – das aber zurecht. Innerhalb Sekunden zwischen der hautnah spürbaren Simulation eines tropischen Regenwalds und der normalen Außenwelt hin- und herwechseln zu können, macht erst bewusst, wie sensibel unser Klima eigentlich ist. Hier geht's zur Website.
7) Bootfahren. In der Stadt Helston gibt es einen überschaubaren Teich, auf dem man mit Kind & Kegel beschaulich Ruder-, Tret- oder Elektro-Boot fahren kann. Direkt daneben: ein Café, das hinreißende selbstgemachte Mehlspeisen serviert. Sollte das Kind dabei zuviel Zucker erwischt haben: In Sichtweite gibt's einen schönen Spielplatz. Alles zusammen hier auf Google Maps zu finden.
8) Flambards Theme Park. Ein schwer zu beschreibender Vergnügungspark auf riesiger Fläche. Kein Vergleich mit Legoland & Co., dafür viel britische Patina, günstig und mit überschaubarem Besucher-Andrang. Die interaktive Indoor-Ausstellung "Britain in the Blitz" (kurzer Video-Rundgang), die die Situation des deutschen Weltkrieg-Bombardements anhand eines begehbaren, erstaunlich authentischen Straßenzugs nachstellt, erzeugt auch bei Erwachsenen Gänsehaut. Hier geht's zur Flambards-Website.
9) Cream Tea. Der berühmte Nachmittags-Snack sorgt zwischen den benachbarten Grafschaften Cornwall und Devon seit Jahrhunderten für hitzige Diskussionen (siehe hier): Muss zuerst die Erdbeer-Marmelade oder die "clotted cream" (eine Art dicker Rahm) aufs Gebäck ("scones") gestrichen werden? Ich enthalte mich einer Meinung, empfehle aber dringlich: Über einen genüsslich zelebrierten Cream Tea geht gar nichts.
10) Cornwall hören. Seth Lakeman ist die musikalische Folk-Musik-Instanz der Region. Was er auf seiner Geige (die ihm seine Mutter vermacht hat und die er nie aus dem Auge lässt), aufführt, ist zum Niederknien gut. Mein Lieblingslied von ihm: "Lady Of The Sea".