Mein Lopar

Jedes Jahr kehrt meine Familie an denselben Ort zurück, in dasselbe Apartment, an denselben Strand, zu denselben Leuten. Für mich existiert diese Tradition schon mein ganzes Leben lang.
 

Mich an die Urlaube in Lopar zurückzuerinnern, ist wie mir selbst beim Erwachsenwerden zuzusehen. Die kleine Ortschaft ist aber auch die tröstende Flucht ins Vertraute, der Ort, an dem die Veränderungen, die mit dem Älterwerden einhergehen, in den Hintergrund rücken und ich mit einem Erdbeermilchshake in der Hand einfach wieder Kind sein kann. In Lopar die gleichen Wege zu gehen wie als Sechsjährige fühlt sich an wie mein Erwachsenwerden kurz zu pausieren, ein bisschen länger in der gemütlichen Kindheitsblase zu verweilen.

Zugegeben, mein Getränkerepertoire wurde, seit ich 6 Jahre alt war, ein wenig erweitert – der Erdbeermilchshake führt eine ausgeglichene Koexistenz mit Piña Coladas und Karlovačko. Ich muss auch nicht mehr zwanghaft jeden Tag einen Hotdog zu Mittag und Schinken-Mais-Pizza am Abend essen, was sich sicher als eindeutiges Indiz für innerliche Reife deuten lässt.

Tradition schon bei der Anreise

Jedes Jahr läuft die achtstündige Autofahrt nach dem exakt gleichen Muster ab. Am Abend vor der Abfahrt stänkert mein Vater, dass er das Gepäck nicht in der Früh, sondern jetzt sofort vollständig ins Auto schlichten will. Beim Frühstück am nächsten Tag stänkert er, dass wir zu viel mitnehmen, dann stänkert meine Mutter, dass nicht fertig vollgestopfte Taschen schon im Auto sind, dann stänkere ich, dass sie alle nicht so viel stänkern sollen.

Jede Klopause auf der Fahrt erfordert eine innere Vorbereitung meinerseits, aber unabhängig von den vergangenen Stunden stänkert mein Vater über mein mangelndes Durchhaltevermögen und ich stänkere über seine mangelnde Sensibilität.

Schon als Kind war ich bei dem ganzen Stress unendlich erleichtert, wenn wir auf der Küstenstraße das erste Mal das Meer aufblitzen sahen. Die kurvige Route zur Fähre hinunter, die früher in Jablanac ablegte, jetzt in Stinica ihren Hafen hat, ist jedes Mal die Gelegenheit für meinen Vater, seinem inneren Rallyefahrer das Steuer zu übergeben, und für mich, die Stärke meines Magens zu testen (und klarerweise dabei abwechselnd mit meiner Mutter über seinen Fahrstil zu stänkern). Aber da ist auch dieses Gefühl, heimzukommen zu meinem seit 16 Jahren kaum veränderten geliebten Fleckchen Erde – das lässt die ganze mühsame Anreise plötzlich nicht mehr so lang erscheinen.

Bevor wir aber zur Fähre fahren, die uns endlich auf die Insel Rab bringt, wird Halt gemacht bei einem kleinen schäbigen Beisl in den Bergen. Es lockt uns weder kulinarische Meisterleistungen noch ein traumhafter Ausblick jedes Jahr ins "Gacka Dolina", so wie alles bei unserem jährlichen Besuch ist es eine Tradition geworden: Hier genehmigen wir uns das erste kroatische Bier, essen einen kleinen Snack oder vertreten uns kurz die Beine.

Das Markenzeichen des Lokals: Die unhygienische und vermutlich seit der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens nicht mehr renovierte Toilette. Ein wahres Stück Geschichte für sich und Thema negativer Google-Rezensionen.

Nach diesem rustikalen Zwischenstopp geht es endlich Richtung Fähre. Meine Eltern und ich fahren schon lange nicht mehr nur zu dritt Richtung Lopar– mittlerweile begleiten uns mehrere befreundete Familien und wir düsen im Konvoi auf die Insel. Eltern plus Kinder, auch wenn die Kinder schon länger keine Kinder mehr sind, fahren gemeinsam auf die Fähre. Hier rieche ich dann das erste Mal seit einem Jahr wieder den Geruch des Meeres, lasse mir die Haare vom Wind ins Gesicht peitschen und halte die Nase in die Sonne.

Weiße Strände und Sportplätze

Lopar besticht vor allem mit seinem paradiesischen, kilometerlangen Sandstrand. Das Meer ist selten wirklich kalt und durch das sehr weit hineingehende seichte Wasser auch sehr kinderfreundlich. Abgesehen von ein paar stacheligen Kletten liegt man in traumhaft weichem Sand, Volleyballplätze und Cocktails vervollständigen den perfekten Strandtag.

Unsere Gruppe liegt wie bei unserem ersten Urlaub immer noch am gleichen Fleck Strand, zwischen einem der kleinen Strandrestaurants und der Bar, die jahrelang meine Erdbeershakequelle war. Das Lokal mit dem Namen "Toni", neben dem wir liegen, gehört auch schon seit zumindest 16 Jahren ebendiesem Toni.

Wie bei allen Strandfutterplätzen gibt es hier Hotdogs und den für mich besten Cheeseburger überhaupt, aber auch gegrillte Calamari und frittierte Sardinen kommen auf den Tisch. Die Küche ist vielleicht zwei Quadratmeter groß und wenn man um 7 Kuna (was ungefähr einen Euro ausmacht) nur eine Kugel Eis zu kaufen glaubt, wird man oft mit drei Kugeln überrascht werden.

Hat man genug vom Braten in der Sonne, bietet Lopar entlang des Strandes vielseitige Freizeitaktivitäten, um sich den Tag zu vertreiben. Am Hafen wird Wassersport von Jetskis, die man mieten kann, bis zu Bananenfahrten geboten, am anderen Ende des Strandes gibt es drei halsbrecherische Wasserrutschen, einen Tennisplatz und auch einen Luna Park mit ein paar uralten Attraktionen, die ich schon als Kind benutzt habe.

Einen besonderen Platz in meinem Herzen hat unser alljährlicher Golf-Tag mit meinem Vater. Dieser hat immer am Tag der Rab-Stadttour – oder eher Shoppingtour unserer Mütter – stattgefunden, an einem auf waldigem Platz gelegenen Minigolfplatz neben dem Strand. Mein Vater als Golfliebhaber hat jedes Jahr wieder versucht, uns die richtige Haltung und den korrekten Schwung beizubringen. Vergebens.

Nach dem Spiel ging es dann immer zu einem der kleinen Strandlokale auf einen Hotdog oder Burger und eine Kugel (oder drei Kugeln) Eis.

Zu diesem Minigolfplatz gehen wir auch heute noch, allerdings nicht mehr am Tag der Rab-Stadttour. Mit dem Älterwerden stellte das Shoppen in der Stadt dann doch den größeren Reiz für uns dar.

Neben all den Sportplätzen lädt die Landschaft aber auch zu Bewegung nur mit sich alleine ein. Die Waldwege sind perfekte Lauf- oder Spaziermöglichkeiten. Joggt man am Vormittag vor der Mittagshitze diese Wege entlang, begegnet man oft keiner anderen Menschenseele. Nach einem anstrengenden Anstieg findet man sich oberhalb der Stadt mit einem wunderschönen Ausblick auf die Dächer Lopars, den Wald und natürlich das Meer wieder, akustisch allein von den zirpenden Zikaden begleitet.

Mein Lieblingsort in Lopar seit meiner Kindheit ist ein unebener Felsen neben unserem Strand mit perfekter Sicht auf das Festland und die Insel Goli Otok. Dort sitze ich auch heute noch manchmal und hänge meinen Gedanken nach, genieße die Abgeschiedenheit und lausche dem Geräusch von gegen den Stein schwappender Wellen.

An einsamen Orten Runden zu drehen und mir Geschichten auszudenken bedeutete schon als Kind pure Entspannung für mich, als Teenager begann ich meine Ideen niederzuschreiben. Auf diesem Felsen wurden meine ersten Texte und der Wunsch, Autorin zu werden, geboren.

Pizza, Pasta und Schnaps

Die Kulinarik in Lopar beschränkt sich aber nicht auf Burger und überdimensionale Eisbecher. Neben den kleinen Fast-Food-Strandlokalen ist der Ort in der Sommersaison auch voll mit etwas eleganteren Restaurants. Alle zu Fuß einfach zu erreichen, mit vielen Deutsch sprechenden Kellnern für die Englischfaulen und alle mit sehr ähnlichen Angebot: Es ist das Paradies der Grillplatten, Meeresfrüchte, cremigen Pasta-Gerichte und käsigen Pizzen.

Das meiner Meinung nach beste Essen bekommt man beim Restaurant "Navigator", ein zweistöckiges überdachtes Lokal einen kurzen Bergaufmarsch vom Marktplatz Lopars entfernt. Mit dem Besitzer des "Navigator" verhält es sich ähnlich wie mit dem "Toni": Seit ich mich erinnern kann, ist er ein Freund meiner Eltern und versorgt uns mit selbstgemachtem Wein und großartigem Essen.

Nach jedem Restaurantbesuch wird zur Rechnung ein Digestif gebracht. Als wir noch Kinder waren, gab es für uns Muscheln, vom Chef beim Schnorcheln eigenhändig aus dem Meer gefischt. Mittlerweile gilt die an den Tisch gerichtete Frage "Süß oder scharf?" auch uns. Süß für Julischka, scharf für Sliwowitz – der Schnaps nach dem Essen ist in jedem Restaurant ein Muss.

Mit vollgeschlagenem Magen sind wir "Kids" meistens ohne unsere Eltern vom Restaurant Richtung Marktplatz gegangen. Die kleinen Stände mit Krimskrams aller Art, inklusive Fake-Marken-Produkten, waren für uns als Kinder und angehende Teenager unglaublich spannend. Ein Geschäft steht neben dem anderen und verführt mit billigen Sonnenbrillen, süßen bunten Armbändern und kitschigen Souvenirs. Egal wie viele Jahre ich schon herkomme, ich kaufe immer noch jedes Jahr an diesen Ständen.

Stadt und Bootstour

Die jährliche Rab-Tour und das damit einhergehende Shoppen habe ich schon erwähnt, ein paar Worte sollte ich neben all den Erinnerungen aber doch zu dieser oft als schönste der kroatischen Küste bezeichneten Stadt verlieren. Seit mehr als 2000 Jahren existiert die Altstadt Rab, das unverkennbare Wahrzeichen sind die vier in einer Reihe stehenden Kirchtürme. Man spaziert in romantischen schmalen Gassen in venezianischem Stil an kleinen Geschäften und Eisständen vorbei, gegen ein paar Kuna kann man die Kirchtürme hinaufgehen und eine umwerfende Aussicht genießen. Verwinkelte Treppen führen zu Aussichtsplätzen hinauf, die neben dem Blick aufs Meer auch idyllische Fotoplätze bieten.

Der Schutzpatron von Rab ist übrigens der Heilige Christophorus, dessen Schädel auf der Insel Rab in der Kirche "Maria Himmelfahrt" in einer zu besichtigenden Schatzkammer als Reliquie aufbewahrt wird. Genau derselbe Christophorus, dem der Notarzthubschrauber der Flugrettung des ÖAMTC seinen Namen zu verdanken hat.

Vom Hafen in Rab aus startet meistens auch eine letzte Tradition: Unsere jährliche Bootsfahrt. Mit Sack und Pack schippern wir mit einem gemieteten Boot zu einer der um Rab herumliegenden Inseln: Goli Otok, Krk oder Pag. Am Weg machen wir Schnorchel- und Schwimmstopps in kleinen Buchten, während der Fahrt liege ich gerne vorne am Boot und halte nach Delphinen Ausschau. Delphine habe ich in diesen Gewässern allerdings nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen.

Krk und Pag bieten ähnliche Touristenziele wie Rab oder Lopar, Stadttouren, Shopping und schöne Strände. Goli Otok, die "nackte Insel", lässt einen hingegen für ein paar Stunden in die düstere Vergangenheit Kroatiens eintauchen. Die ehemalige Gefängnisinsel wurde aufgrund ihrer blutigen von Gewalt und Terror geprägten Vergangenheit auch als "Titos KZ" bezeichnet, tausende Menschen starben hier durch Folterungen und Misshandlungen.

1988 wurde das Gefängnis aufgegeben, heute ist Goli Otok unbewohnt und voller Ruinen. Für Touristen ist die Insel zu besuchen, aber nur ein einziges Restaurant existiert beim winzigen Hafen, sonst hat die ganze Gegend etwas Verwildertes, Trostloses. Man steigt über Scherben und durch verwahrloste Gebäude, problemlos kann an den Mauern mancher Ruinen hochgeklettert werden, es gibt keinerlei Absperrungen. Einen starken Kontrast zu der unberührten Ruinenlandschaft stellt der kunterbunte Goli-Express dar, der mehrfach täglich mit Touristen an Bord durch den ehemaligen Schauplatz des Grauens tuckert.

Für immer Kind

Trotz allem werde ich nicht ewig an dem unveränderten Lopar meiner Kindheit festhalten können. Der Massentourismus hat hier, wie an so vielen Orten, seinen Tribut gefordert. Früher war unser Lieblingsstrand selten voll, der Marktplatz wurde nie von riesigen Menschenmassen durchquert, die Restaurantbesitzer waren nie dauerhaft überanstrengt und genervt. Die Qualität des Essens war nie aufgrund von Massenabfertigung schlecht, nie mussten wir um Reservierungen betteln, um abends einen Platz in den Restaurants zu finden.

Mein Erdbeermilchshake hat immer gleich geschmeckt – nach der Neuübernahme der Strandbar musste ich auch von dieser kleinen Tradition Abschied nehmen.

Dieses Jahr werde ich das erste Mal, seit ich mich erinnern kann, nicht nach Lopar fahren. Ich kann nicht anders, als eine Symbolik darin zu sehen. Der endgültige Aufruf, Abschied zu nehmen von dem kindlichen Wunsch nach einem unveränderten Ort, der Illusion einer ewigen Kindheit. Vielleicht werde ich nächstes Jahr mit einem anderen Blick auf Lopar zurückkehren, vielleicht erkenne ich vieles nach der Krise nicht wieder und vielleicht muss ich mich dann nicht mehr kleinen, sondern großen Veränderungen stellen. Der Gedanke macht mich traurig – aber es schleicht sich auch ein kleines Lächeln auf mein Gesicht.