Kann elektrisch Sünde sein?
Sechs Jahre Entwicklungszeit machten die Harley Davidson LiveWire zu einem ausgetüftelten, hochwertigen Elektro-Motorrad, das bei der Performance kaum Fragen offen lässt. Test von Karin Mairitsch
Der Motorradclub ist skeptisch. Freundlich, aber skeptisch. Ja, fesch ist sie schon, und sie sieht auch aus wie eine Harley, trotz der schlanken Linienführung. Aber ganz ehrlich, eine Harley ohne Harley-Motor, ohne Vibrationen und ohne das charakteristische Motorengeräusch?
Wie soll das bitte gehen, was hat das für einen Sinn, wenn man nicht schon von Weitem, also noch bevor man gesehen wird, gehört wird? Ist das noch eine Harley?
Der fachkundige Blick aufs Detail öffnet die Herzen der sanfteren Charaktere. Zahnriemenantrieb, sehr schön. Eine radial montierte 300-Millimeter-Brembo-Doppelscheibenbremse vorne – na so was, das gab's bei Harley noch nie. Und keine Endtöpfe, an denen man sich die Wadeln verbrennt, das ist super, hahaha! Und was ist das, ein kleiner unscheinbarer Flüssigkeitskühler, wofür ist der gut? Aha, Kühlung für Motor und Akku unter Volllast sowie bei der Ladung des Akkus, sehr interessant. Ob man vielleicht mal probesitzen dürfe?
Der erste Griff der Inbesitznahme ist beim Motorradfahrer der zum Kupplungshebel. Den es bei der LiveWire nicht gibt. Auch der Schalthebel fehlt. Das ist logisch und zugleich ungewohnt und überraschend: Beim Elektromotor steht das gesamte Drehmoment bereits ab der ersten Umdrehung zur Verfügung, die LiveWire braucht kein Getriebe.
So viele Bedienelemente an den Lenkerenden. Doch hier, der Einschaltknopf. Gefunden! System aktivieren. Das Display führt durch die weiteren Schritte: Seitenständer einklappen. O.K. Startknopf drücken. O.K.
Kein Geräusch, aber ... Was ist das? Da ist ein zartes, jedoch klar spürbares Klopfen unterm Gesäß, bumm, bumm, bumm, 60 beats per minute. Wow! Sie lebt!
Na, dann schauen wir einmal, was sie draufhat, die Süße.
Wwwiiiihhhhh! Von wegen kein Fahrgeräusch. Das ist der Sound der Science-Fiction-Raumschiffe aus den Siebzigerjahren. Herrlich. Sportmodus! Tief liegt der Schwerpunkt und die LiveWire satt auf der Straße. Die Fahrdynamik ist enorm, von 0 auf 100 in drei Sekunden, von 100 auf 130 in weiteren 1,9 Sekunden. Fast wie beamen. Ein Viertelmeilen-Rennen wäre spannend.
Nach der Autobahn kommen die Kurven. Hier wird es offenbar, dass das Fahrwerk der LiveWire von Schülern des legendären Erik Buell entwickelt wurde. Der Brückenrahmen aus Leichtmetall ist wunderbar verwindungssteif, der Motor tief positioniert und mittragendes Chassis-Element, das Showa-Fahrwerk vorne und hinten vollständig einstellbar.
Mit wenig Kraftaufwand lässt sich das Motorrad in die Kurve legen und ist wie gemacht für die schnelle Hausstrecke. Die LiveWire verfügt werkseitig über vier Fahrmodi – Regen, Eco, Straße und Sport – sowie drei weitere frei programmierbare. Diese unterscheiden sich in puncto Beschleunigung, Leistungsentfaltung, Motorbremswirkung und Traktionskontrolle.
Es scheint vernünftig, sich im urbanen Bereich auf "Straße" oder das zahme "Eco" zu beschränken. Das Spektrum der Möglichkeiten des Motorrades wird so nur breiter. Im Sport-Modus allerdings ist die Motorbremswirkung durch Rekuperation am stärksten zu verspüren, so kommt man innerstädtisch fast ohne Griff zum Bremshebel aus. Hier braucht man ihn nur noch für die letzten Meter an der Ampel oder in unvorhergesehenen Situationen.
Der Elektromotor rekuperiert nämlich, sobald man vom Gas geht, also von Beschleunigung auf Schiebebetrieb wechselt. Dann arbeitet der Motor als Generator und wandelt Bewegungsenergie wieder in elektrische Energie zurück, die wieder in den Akku eingespeist wird und so die Reichweite verlängert.
Im Modus "Sport" und bei flotter Fahrweise kommt das System den Absichten des Fahrers entgegen, indem es spürbar, aber eben gerade richtig dosiert verzögert, wenn man vom Gas beziehungsweise Strom geht. Derart elektronisch unterstützt ist es ein Leichtes, den richtigen Bremspunkt zu finden.
Dabei ist die Bremsanlage hochkompetent: Hinten 260-Millimeter-Einscheibenbremse, vorne schwimmend gelagerte 300-Millimeter-Doppelscheibenbremse mit Vierkolbenbremszange, beides von Brembo. Die mächtige Vorderbremse sorgt für einen glasklaren Druckpunkt.
Die Reichweite ist respektabel – je nach Fahrweise schafft der Akku praktikable 150 bis zu 235 Kilometer. Mehr noch als beim Verbrennungsmotor ist die Reichweite allerdings eine Frage des Fahrstils: Je schneller man fährt, desto höher sind Leistungsaufnahme und Luftwiderstand, je mehr man am Gasgriff hängt, desto weniger kann der Motor rekuperieren.
Auf der Autobahn hat man dementsprechend die geringste Reichweite, in der strafzettelfreien Zone kommt man hier auf 130 Kilometer. In sportlicher Fahrweise auf Landstraßen schafft die LiveWire 150 Kilometer, im grundvernünftigen Stadtmix (Stop-and-Go plus Stadtautobahn) sind wir mit der Elektro-Harley gut 220 Kilometer weit ohne Nachladen unterwegs.
Aufgeladen wird die LiveWire am besten über Nacht an der normalen 230-Volt-Haushaltssteckdose oder innerhalb von etwa einer Stunde an einer der im urbanen Bereich häufigen Schnellladestationen. Diese gibt es auch an allen Autobahnraststätten und immer öfter im ländlichen Bereich.
Schneller geht's nicht. Auch wenn die Ladestation eine Leistung von, angenommen, 50 Kilowatt (kW) liefert und sich dementsprechend für 15,5 Kilowattstunden (kWh) eine Ladezeit von rund 20 Minuten errechnet, so ist die Leistungsaufnahme des Akkus der LiveWire dennoch begrenzt – der Akku, genannt RESS (Rechargeable Energy Storage System), soll bei der Beladung nicht überhitzen.
In diesem Sinne empfiehlt der Hersteller auch die Aufladung an der Haushaltssteckdose. Dieser Ladevorgang ist schlichtweg schonender für die Batterie. Über das mitgelieferte Ladegerät kann übrigens auch bei längerem Stillstand des Motorrades, beispielsweise im Winter, der Ladezustand der Batterie überwacht und eingestellt werden: Er sollte zwischen 30 und 70 Prozent liegen.
Auf den Akku gibt es fünf Jahre Garantie, auf das gesamte Fahrzeug vier Jahre. Produziert wird die LiveWire übrigens in den USA.
Am Ende des Tages glaube ich, dass der Motorradclub die LiveWire als ein würdiges Modell der Marke anerkennt (oder doch zumindest innerhalb Jahresfrist anerkennen wird). Bei einigen Mitgliedern ist das ultimative Weltbild des Harley-Davidson-Zweizylinders ins Wanken geraten, andere fordern ein nachträglich eingebautes Motorengeräusch. Nur einen hat sie kalt gelassen, der ist ein notorischer Widerständler. Auch okay.
Im Detail: Die Technik der Harley Davidson LiveWire
Der Motor ist ein sechspoliger Dreiphasen-Permanentmagnet-Synchronmotor, dessen Kraft im Übersetzungsverhältnis 9,71:1 von einer schrägverzahnten Teller- und Kegelraduntersetzung im Ölbad auf den Endantrieb übertragen wird. Von dort geht es mittels Zahnriemenantrieb im Übersetzungsverhältnis 3:1 zum Hinterrad. Die Teller- und Kegelraduntersetzung ist auch für das charakteristische Fahrgeräusch zuständig, Tonhöhe und Lautstärke steigen mit zunehmender Geschwindigkeit an.
Einladend, weil gut zugänglich, sind die Einstellelemente des Federbeins, das ursprünglich von Showa für die Superbike-WM entwickelt wurde. Auch die Gabel, eine Showa SFF-BP (Separate Function Fork – Big Piston) mit 43 Millimeter Tauchrohrdurchmesser, arbeitet hervorragend. Feinste Ware. Separate Function bedeutet, dass die Federungs- und Dämpfungsfunktionen auf die Gabelrohre aufgeteilt sind.
Mit einem Radstand von 1490 Millimeter, einem Lenkkopfwinkel von 24,5 Grad sowie einem Nachlauf von 108 Millimeter ist die LiveWire keine Räuberin im engen Winkelwerk, die Schräglage aber ist stabil.
Als Hauptbatterie der Elektro-Harley fungiert ein wiederaufladbares Gleichstrom-Energiespeichersystem aus Lithium-Ionen-Zellen mit einer maximalen Gesamtkapazität von 15,5 Kilowattstunden.
Dieser Akku, der sogenannte RESS (Rechargeable Energy Storage System), ist zentral oberhalb des Motors im Leichtmetallgussrahmen positioniert und an mehreren Punkten mit dem Rahmen verbunden, sodass der Akku auch zur Steifigkeit des Fahrwerks beiträgt.
Das Leichtmetallgehäuse des RESS trägt Kühlrippen, die mehr als ein Designelement sind. Zusätzlich befinden sich oberhalb des Akkus am Rahmen auf beiden Fahrzeugseiten Lufteinlässe, die im Fahrbetrieb Kühlluft auf den Akku leiten. Und dann gibt es noch, wie eingangs erwähnt, einen kleinen Flüssigkeitskühler, der einerseits Motor und Akku unter Volllast, andererseits den Akku während der Beladung kühlt.
Eine zweite Batterie übernimmt die Spannungsversorgung zum Systemstart sowie die Kommunikation mit dem Transponder. Sie liegt hinter dem Elektromotor unter der Schwingenlagerung, wird über den RESS gespeist und liefert eine Spannung von 12 Volt.
Und so geht's weiter
Die LiveWire soll kein Einzelkind bleiben. Ähnlich wie 2003 bei der Marke Buell die großartige S1 die Erste einer Sport-Serie war, soll die LiveWire die Erste einer elektrisch angetriebenen Serie sein: Qualifizierten Gerüchten zufolge sollen im Modelljahr 2022 ein Elektro-Roller und ein Elektro-Dirtbike, also ein Fahrrad, folgen.
Die Geschäftsführung hat sich das gut überlegt. Und es muss ja auch nicht jeder Harley-Davidson-Händler die elektrisch angetriebene Baureihe führen. Auch die LiveWire ist nicht bei jedem der etablierten Händler direkt erhältlich, und jeder offizielle LiveWire-Händler braucht eine für Kunden/-innen zugängliche Schnellladestation auf seinem Betriebsgelände sowie eigens an der HD Academy ausgebildete Mechaniker für die Wartungsarbeiten an dem E-Motorrad.
Man muss sich also als Harley-Davidson-Händler schon berufen fühlen und durchaus Geld in die Hand nehmen, wenn man auch LiveWire-Händler werden möchte.
Das Modell ist innerhalb von drei bis vier Wochen lieferbar, das in Belgien befindliche Zentrallager für den europäischen und afrikanischen Markt ist gut bestückt. Erhältlich ist die LiveWire in den Farben Schwarz, Orange und Gelb, in Gelb – wie unser Testfahrzeug – ist der Lagerstand am geringsten.
Spannend bleibt es zu beobachten, welche Menschen nun wirklich auf das Motorrad anspringen. Unsere Feldstudie hat ergeben, dass bei weitem nicht nur verbriefte Harley-FahrerInnen von der LiveWire beeindruckt sind. Möglicherweise reflektieren markenfremde Fahrer sogar mehr auf die Elektro-Harley als die Stammklientel von HD.
Lassen Sie es uns so sagen: Wer schon einen Tesla in der Garage stehen hat, wird sich wahrscheinlich keinen zweiten Tesla zulegen, und wer schon die dritte BMW oder Ducati oder Triumph oder KTM oder ... in Serie in der Garage stehen hat, wird sich vielleicht auch die LiveWire überlegen, und sei es als Zweitmotorrad für die Stadt oder die schnelle After-Work-Runde. Der Sichtbarkeitsfaktor mit dieser Harley Davidson ist jedenfalls enorm. Es hat schon was, wenn man bei einer Entwicklung ganz vorne mit dabei ist.
Ob die HD-Händler auch bei einem Elektro-Roller und einem Elektro-Fahrrad mitspielen werden, wird sich weisen. Andererseits, schon heute sind die Merchandise-Ecken im Harley-Davidson-Shop gut bestückt, das Sortiment reicht vom Fressnapf für den Hund bis zum mit Straßsteinen besetzten Ledergürtel für Damen. Und darüber hinaus.
In Insiderkreisen wird jedenfalls erwartet, dass der seit einigen Monaten neu im Amt befindliche CEO der Harley-Davidson Inc., der Deutsche Jochen Zeitz, an der Elektro-Strategie des Unternehmens festhalten wird. Zeitz ist als Sanierer angetreten und hat auch schon den Sportartikelhersteller Puma vor dem Konkurs gerettet. Die Zukunft der Marke ist also auf jeden Fall… hoch spannend.