MercedesBenz_300SL_014_CMS.jpg Mercedes-Benz Classic, Fotograf Lukas Müller
© Mercedes-Benz Classic, Fotograf Lukas Müller
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Juli 2024

Nur fliegen ist schöner

Zeitlose Eleganz, fortschrittliche Technik und Türen im Stile von Flügeln: Der Mercedes-Benz 300 SL hat auch nach 70 Jahren nichts von seiner einstigen Faszination eingebüßt. Ein Erlebnisbericht.  

Majestätisch steht er da. Ganz in silber. So, wie es sich gehört. Sein Markenzeichen: die markanten und typischen Flügeltüren, in den USA "Gullwing" (Möwenschwinge) genannt. Der Ort des Kennenlernens könnte besser kaum sein: Das Auto parkt direkt auf dem Vorplatz des imposanten Mercedes-Benz-Museums in Stuttgart. Auch das feiert ein Jubiläum, sein mittlerweile Zwanzigstes. Und ist ebenfalls ganz in silber gehalten.

Wir, der ehemalige auto touring-Chefredakteur Peter Pisecker und ich, haben uns an diesem wechselhaften Tag (wie wir später noch eindrucksvoll erfahren werden) Ende April mit dem Ex-Formel-1-Crack und aktuellen Mercedes-AMG-Markenbotschafter Karl Wendlinger verabredet, um dem Mythos 300 SL im Zuge einer Ausfahrt auf die Spur zu kommen.

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1 Redakteur Christian Stich (li.), Mercedes-AMG-Markenbotschafter & Ex-Formel-1-Pilot Karl Wendlinger (Mitte) und der ehemalige auto touring-Chefredakteur Peter Pisecker vor dem Mercedes-Benz 300 SL © Mercedes-Benz Classic, Fotograf Lukas Müller

2 Die Höchstgeschwindigkeit des 300 SL lag bei rund 250 km/h – ein atemberaubender Wert für die Fünfziger-Jahre.   © Mercedes-Benz Classic, Fotograf Lukas Müller

3 Die Flügeltüren wurden schon bald zum Markenzeichen des Autos. Fortan wurde er daher oft einfach nur mehr recht salopp "Flügeltürer" genannt. © Mercedes-Benz Classic, Fotograf Lukas Müller

Lang, lang ist’s her

Der Ursprung des 300 SL liegt in seiner Rennversion, dem W194, der 1952 seine Premiere feierte. Der Wagen war mit einem Reihensechszylinder-Motor ausgestattet und hatte eine Leichtbaukarosserie. Der Rennwagen erzielte zahlreiche Rennerfolge, darunter Siege bei den 24 Stunden von Le Mans, der Carrera Panamericana sowie der Mille Miglia.

Die Serienversion des 300 SL wurde dem Publikum dann erstmals auf der New York Auto Show 1954 vorgestellt und ging als erstes Modell der späteren SL-Klasse in die Geschichte ein. Er war der erste (!) Serienwagen mit Benzindirekteinspritzung – ein Verfahren, das den Motor wesentlich effizienter und leistungsfähiger macht. Zur damaligen Zeit war man damit der Konkurrenz einen entscheidenden Schritt voraus.

Die ikonischen Flügeltüren sind eine der charakteristischsten Designmerkmale des Coupés. Sie waren in den 50ern eine kleine Sensation, aber auch eine technische Notwendigkeit, um die hohe Schwellerkonstruktion des Gitterrohrrahmens zu umgehen. Das Ein- und Aussteigen wird dadurch nicht leichter, zarte Talente zum Kunstturnen schaden definitiv nicht, wie es hier zu sehen ist.

Ex-Formel-1-Pilot Karl Wendlinger

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Los geht’s

Karl und ich schlüpfen in den Innenraum des SL. Es beginnt zu tröpfeln. Das heißt: Die schweren Flügeltüren runterziehen. Rumms! Das Schloss schließt satt, auch nach 70 Jahren. Das Platzangebot ist zwar nicht gerade üppig, wirklich beengt fühlt man sich aber dennoch nicht. Karl ist locker. Er kennt den 300 SL wie kaum ein anderer. "Ich bin schon einige Male die Mille Miglia mit dem Auto gefahren, sowohl als Fahrer als auch als Beifahrer. Das ist immer wieder eine Herausforderung und ziemlich anstrengend. Aber es lohnt sich jedes mal wieder. Vor allem die Begeisterung der Zuschauer ist einmalig", schwärmt Karl. Der 300 SL ist selbst in der Umgebung vieler anderer historischen Fahrzeugen immer einer der größten Stars.

Wir bewegen uns aus Stuttgart hinaus, fahren kurvige Straßen ins Umland der Schwaben-Metropole. Stop-and-Go-Betrieb? Kein Thema. Der SL lässt sich problemlos fahren. Anfahren, bremsen, kuppeln. Stehen bleiben. Völlig problemlos. Ich staune zum ersten Mal. Karl ist von der Fahrdynamik des 300 SL sowieso begeistert: "Man muss bedenken, welches Handling das Auto schon in den 50er-Jahren hatte. Spurverhalten, Fahrverhalten, Spurtreue. Das ist schon beeindruckend. Alles, was vor dem Krieg gebaut wurde, ist drei mal so schwer zu fahren. Der 190er, ebenfalls aus dieser Zeit, ist bei weitem nicht so sportlich zu fahren wie der 300er."

Die Sonne kommt hinter den dicken Wolken heraus. Zeit, um erste Fahrdynamik-Fotos zu machen. Und den Platz zu tauschen. Ich schwinge mich über den breiten Schweller, klappe das große Lenkrad zur Seite und lasse mich in die kleinen Sitze fallen. Sie sind im Vergleich zu modernem Gestühl in jeder Hinsicht kleiner, dünn gepolstert und praktisch nicht zu verstellen.

MercedesBenz_300SL_041_CMS.jpg Mercedes-Benz Classic, Fotograf Lukas Müller © Mercedes-Benz Classic, Fotograf Lukas Müller
Die wichtigsten Fakten vor dem Start noch einmal erklärt.

Damals und heute

Lust auf ein paar Vergleichszahlen? Der 300 SL aus den 50er Jahren hatte 215 PS, war 4,5 Meter lang und weniger als 1.300 Kilogramm schwer. Sein aktuelles Pendant wäre der Mercedes-AMG SL 43. Der hat 381 PS, ist 4,7 Meter lang und bringt zumindest 1.800 Kilo auf die Waage.

Ich starte ein Stück Automobilgeschichte. Mein Puls steigt. Doch schon nach wenigen Metern weicht meine Nervosität totaler Begeisterung. Warum? Der 300 SL lässt sich unerwartet einfach fahren. Einfacher sogar, als es zuvor vom Beifahrersitz aus noch den Anschein hatte. Okay, die Kupplung ist relativ schwergängig. Nicht so die Bremse. Er ist das erste Auto mit Bremskraftverstärker. Dennoch verzögern die vier Trommelbremsen eher leger. Und nicht zu vergessen das große Volant. Richtig beeindruckt bin ich vom exakten und durchaus kurz geführten Viergang-Schaltgetriebe, das die Kraft sanft an die Hinterräder weitergibt.

Dass ein 70 Jahre altes Auto so "modern" fährt, hätte ich nie für möglich gehalten! Es spricht aber für die Ingenieursleistung der 50er-Jahre.

Christian Stich, auto touring-Redakteur

Das Wetter schlägt um. Gerade hat noch die Sonne gescheint, zwei Kurven weiter regnet es in Strömen. Tropfen prasseln auf die Karosserie des SL, die zum größten Teil aus hochwertigem Stahlblech besteht. Motorhaube, Kofferraumklappe, Schweller- und Türhaut sind jedoch aus Aluminium.

Es wird laut im Innenraum. Nicht nur wegen des Geräusches des 215 PS starken Reihen-Sechszylinders. Die kleinen Scheibenwischer arbeiten auf Hochtouren. Und trotz der moderaten Außentemperaturen heizt sich der Innenraum auf, es wird dampfig. "Vor allem bei der Mille Miglia, wenn es draußen bereits richtig heiß ist, wird’s im Inneren zum Teil unerträglich heiß.", weiß Karl aus eigener Erfahrung. Eine Klimaanlage gibt es selbstverständlich nicht. Dafür Naturklima. Soll heißen: Sommer heiß, Winter kalt. Bei Letzterem hilft immerhin eine Heizung.

Geschichten über Geschichten

Mittlerweile hat das Wetter noch eins draufgelegt. Schneeregen setzt ein. Wir "tragen" den 300 SL über die kurvigen Straßen zurück Richtung Mercedes-Museum. Karl und ich plaudern über seine Zeit in der Formel 1 Anfang der 90er-Jahre, über seine ersten Erfahrungen und dem stets guten Verhältnis zu Stars wie Michael Schumacher, dem er seinerzeit in Tirol das Skifahren beibrachte. Und natürlich Ayrton Senna. Für Karl der beeindruckendste Fahrer seiner Zeit. Auch auf seinen eigenen Unfall beim Training in Monaco kommen wir zu sprechen. Erinnern kann er sich diesbezüglich an nichts mehr.

Senna war der kompletteste Fahrer seiner Zeit. Wie er selbst mit unterlegenem Material immer wieder gewonnen hat, war schon beeindruckend. 

Karl Wendlinger, ehemaliger Formel-1-Fahrer und aktueller AMG-Botschafter

Das Fahren mit dem 300 SL ist mittlerweile zur Nebensache mutiert. Nein, nicht weil es langweilig geworden ist, ganz im Gegenteil. Das Handling des Sportwagens ist in den letzten Minuten so sehr in Fleisch und Blut übergegangen wie das Pilotieren eines gewöhnlichen VW Golf. Klingt komisch, ist aber so. Und spricht vor allem für die fantastische Ingenieurskunst der 50er-Jahre.

Um den Komfort und die Alltagstauglichkeit des 300 SL noch weiter zu verbessern, brachte Mercedes 1957 übrigens den 300 SL Roadster auf den Markt. Die Roadster-Version bot eine verbesserte Handhabung und eine überarbeitete Hinterachse. Zudem hatte er konventionelle Türen und ein faltbares Stoffverdeck. Insgesamt wurden von 1954 bis 1963 weniger als 3.600 Einheiten des 300 SL hergestellt, wovon etwa 1.400 Stück Flügeltürer-Coupés und der Rest Roadster waren. 1954 kostete der 300 SL übrigens 29.000 D-Mark, also weniger als 15.000 Euro. Dafür bekam man seinerzeit sieben VW Käfer oder ein Einfamilienhaus. Zum Vergleich: Der Einstiegspreis des zuvor angesprochenen Mercedes-AMG liegt bei rund 177.000 Euro.

Unser Tag geht in die Zielgerade, wir biegen beim Museum ein. Rechtzeitig hat es zu regnen aufgehört. Der 300 SL darf sich wieder in die trockene Garage zurückziehen. Auf die Frage, ob Karl lieber den alten 300 SL oder doch einen aktuellen AMG nehmen würde, antwortet er: "Aus Liebe zum Automobil den 300 SL. Aber in Wahrheit ist es heiß, vieles schwergängig, die Bremsen sind im Verhältnis schlecht. Und Sicherheitsgurte gibt’s auch nicht. Dennoch ist es für mich immer wieder beeindruckend, wie weit die Technik damals schon war."

"Das Erbe der Marke lebendig halten"

Mercedes-Benz führt seine Geschichte auf den Benz-Motorwagen von 1886 zurück. Verwaltet wird sie von Mercedes-Benz Classic.

Wer so einen 300 SL besitzt, befindet sich auf jeden Fall in einer finanziellen Komfortzone. Er ist auch bestimmt nicht sein einziges Fortbewegungsmittel.

Eigentlich Blasphemie, den legendären Flügeltürer so zu bezeichnen. Er ist viel mehr als nur das, unter anderem wertbeständiges Anlageobjekt für finanzkräftige Autoliebhaber. Diese haben’s verständlicherweise gern, wenn sie – wie bei einem Kunstwerk – über die Vorgeschichte Bescheid wissen. Erstbesitzer ausgenommen, die kennen sie eh.

Das ist auch deswegen wichtig, weil gefälschte 300 SL im Umlauf sind. Das können einfache Nachbauten mit modernen Mitteln sein – oder sorgsam hergestellte Plagiate aus Originalteilen, die nur Kenner als Fälschung identifizieren können. Verboten ist die Herstellung beider, da greift der Urheberschutz.

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Der nur 80 Kilogramm schwere Gitterrohrrahmen des 300 SL wurde mit Stahlblech beplankt, wobei die Motorhaube, der Heckdeckel, die Schweller und die Türhäute aus Aluminium gefertigt wurden. Gegen Aufpreis konnte das Fahrzeug auch mit einer Aluminiumhaut bestellt werden. Von dieser Variante gibt es nur 29 Stück, ihre Preise liegen heute bei mehreren Millionen Euro.

20.000 Euro plus Mehrwertsteuer kostet es, Gewissheit zu erlangen: Die konzerneigene Abteilung Mercedes-Benz Classic bietet um diesen Pauschalpreis eine umfangreiche Hersteller-Expertise an. Dazu muss der Besitzer seinen Mercedes (kann auch eine "Pagode" sein, der SL der Baureihe W113, oder ein anderes klassisches Modell) zwölf Wochen lang deren Experten überlassen.

Diese vergleichen "den Status quo mit dem ursprünglichen Auslieferungszustand", erläutert Dennis Heck von Mercedes-Benz Classic. Auch ein Vergleich mit Referenzfahrzeugen aus der werkseigenen Sammlung wird angestellt und jede einzelne Reparatur und Veränderung im Lebenslauf dieses einen konkreten Autos nachvollzogen und dokumentiert.

Das erfordert erheblichen Aufwand bei der technischen Recherche. "In unserem Archiv lagern 17 Kilometer an Ordnern, wenn man nur deren nebeneinanderstehende Rücken misst", sagt Heck.

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Mercedes-Benz 190 SL Roadster

Der Kunde erhält schließlich ein reich bebildertes, schön gedrucktes Kompendium, in dem wirklich alles über sein Fahrzeug drinsteht. "Einmal mussten wir einem Kunden schonend beibringen, dass er nicht, wie er dachte, einen der nur 29 Mal gebauten 300 SL mit Aluminium-Karosserie gekauft hatte", erzählt Dennis Heck, "sondern einen der 1.400 Stahl-Flügeltürer." Immer noch sehr wertvoll, aber eben nicht so selten und wertvoll, wie er glaubte.

Mercedes-Benz Classic, angesiedelt in Fellbach östlich von Stuttgart, und das sehenswerte Mercedes-Benz Museum in Untertürkheim bilden gemeinsam die Mercedes-Benz Heritage GmbH, geführt von Marcus Breitschwerdt. Falls Ihnen der Name bekannt vorkommt: Sein Onkel Prof. Werner Breitschwerdt war von 1983 bis 1987 Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG.

Mercedes_21C0014_040_CMS.jpg Mercedes © Mercedes
Mercedes-Benz 300 SL Roadster

Neben der Hersteller-Expertise bietet Mercedes-Benz Classic noch etliche andere Dienstleistungen an, in erster Linie natürlich Besitzern klassischer Mercedes-Automobile, aber auch anderen Interessierten – und verwaltet konzernintern das Mercedes-Benz Archiv und die Fahrzeugsammlung, die über 1.100 Exemplare umfasst. 150 davon sind im Museum ausgestellt. Außerdem hält Mercedes-Benz Classic Kontakt zu 80 anerkannten Markenclubs weltweit, die zusammen rund 100.000 Mitgliedern aufweisen.

In Fellbach und einem zweiten Standort in Long Beach, Kalifornien, werden prachtvolle alte Autos, auch Rennwagen, restauriert sowie Reparaturen und Servicearbeiten an Kundenfahrzeugen durchgeführt. Rund 160.000 verschiedene Ersatzteile für Klassiker der Marke stehen derzeit zur Verfügung. 50 Jahre nach Produktionsende übernimmt die Classic-Abteilung von Mercedes-Benz die Verantwortung für die Ersatzteilversorgung. Es können zwar nicht alle Teile für alle Modelle vorgehalten werden, aber wenn entsprechende Nachfrage besteht, kümmert sich eine eigene Einkaufsabteilung darum, dass Teile in Originalqualität neu aufgelegt werden. Die werden natürlich – wie Ersatzteile neuer Modelle auch, die von Zulieferen nach genauen Vorgaben hergestellt werden – auf Herz und Nieren getestet, beispielsweise indem sie in Werks-300 SL eingebaut werden, die an Veranstaltungen wie der Mille Miglia teilnehmen.

"Jährlich kommen 20.000 neue Teile hinzu", erzählt Thomas Euchner von Mercedes-Benz Classic. Sie werden durch 3.000 Vertragspartner weltweit an Besitzer klassischer Mercedes-Benz-Autos geliefert, ab 2025 soll es auch einen Online-Shop geben.

Zugleich geht man gegen Imitationen vor, die fast immer billiger angeboten werden als Originalteile. Auch die durchlaufen harte Produkttests im Labor und auf Langstrecken-Testfahrten, was bei Teilen wie Spurstangen, Felgen, diversen Filtern oder Bremskomponenten oft gravierende Sicherheitsmängel aufdeckt. Mercedes-Benz liegt logischerweise viel daran, solche Produkte aus dem Verkehr zu ziehen, zu diesem Zweck arbeitet das Unternehmen international mit Zoll- und Polizeibehörden zusammen.

Meistverkaufter und deshalb auch häufig gefälschter Ersatzteil ist übrigens der Mercedes-Stern. Es gibt ihn in 42 verschiedenen Ausführungen, pro Jahr gehen rund 20.000 Stück über den Ladentisch.

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