Wolfgang Voelckel vor Christophorus.
© Sebastian Weissinger
© Sebastian Weissinger
März 2025

Wenn Sekunden zählen

Wie läuft ein Einsatz ab, wegen welchen Notfällen rückt die Flugrettung aus und welche Rolle spielt sie für unser Gesundheitssystem? Der ärztliche Leiter der ÖAMTC Flugrettung, Prof. Dr. Wolfgang Voelckel, spricht über Herausforderungen sowie Glücksmomente und gibt tiefe Einblicke in eine Welt, in der wirklich jeder Handgriff sitzen muss.
 

Ein Unfall ist passiert und es muss schnell gehen. Welche Schritte werden als erste in Gang gesetzt?

Die Rettungsleitstelle versucht möglichst rasch vom Notfallmelder alle Informationen über den Einsatzort und den Zustand des Patienten zu bekommen. Noch während der Bearbeitung des Notrufs wird, unterstützt durch Computersysteme, das am besten geeignete Rettungsmittel alarmiert. Das kann der Notarzthubschrauber, ein Notarzteinsatzfahrzeug oder ein Rettungswagen sein. Wenn die Entscheidung steht und wir am Zug sind, erhalten wir am Stützpunkt alle relevanten Vorinformationen, um uns auf den Einsatz vorzubereiten.

Was muss in den wenigen Minuten vor dem Start alles besprochen werden?

Wir besprechen in einem kurzen Briefing was uns erwartet und ob wir spezielle Ausrüstung benötigen. Das kann bei alpinen Rettungseinsätzen wie einem Lawinenabgang eine Rolle spielen. Routineeinsätze wie Verkehrs- oder Skiunfälle, einer unserer Einsatzschwerpunkte im Winter, erfordern meistens weniger Abstimmung. Bei Einsätzen in der Nacht oder bei besonderen Anforderungen, etwa einem Intensivtransport, bedarf es einer genauen Vorbereitung. In solchen Fällen nutzen wir alle Informationsquellen, auf die wir zugreifen können, angefangen von Wetterkameras über Streetview-Ansichten bis hin zu medizinischen Datenbanken.

Was sind die typischen Diagnosen, wegen denen Sie ausrücken?

Sehr häufig sind es Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch saisonale Freizeit-, Sport- und Touristikunfällen beschäftigen uns intensiv. Neurologische Notfälle sind ein weiterer Schwerpunkt. Natürlich unterscheiden sich die Einsätze in Abhängigkeit von der Region sehr stark. In Niederösterreich entfallen 40 Prozent unserer Einsätze auf internistische Notfälle. In Tirol sieht es anders aus: Dort sind Unfälle in Zusammenhang mit Sport und Freizeitaktivitäten mit 42 Prozent deutlich häufiger.

Wolfgang Voelckel vor Christophorus, Heli ist verschwommen im Hintergrund. © Sebastian Weissinger
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In welchen Fällen wird typischerweise ein Hubschrauber geschickt, wann ist ein Rettungswagen sinnvoller?

Eine wesentliche Rolle spielt der Faktor Zeit. Wir wollen die Patienten immer möglichst schnell erreichen. Auch wenn es nur wenige Fälle sind, bei denen es akut um Leben und Tod geht, können einzelne "goldene" Minuten oder sogar Sekunden entscheiden. Bei einem Herzstillstand muss für die Aussicht auf ein gutes Überleben der Patient sofort an Ort und Stelle – am besten durch Ersthelfer – reanimiert werden. In nur acht Minuten sollte dann aber wirklich qualifizierte Hilfe vor Ort sein. Acht Minuten sind sehr wenig, wenn jemand am Berg ist.

Der Helikopter kommt also immer dann, wenn er für die Rettung oder die Behandlung einen zentralen Vorteil bietet?

Genau, das ist immer dann der Fall, wenn sonst niemand anders oder nur nach langer Zeit an den Einsatzort gelangen kann. Etwa, weil sich ein Tourengeher im Gebirge verletzt hat. Aus medizinischen Gründen rücken wir aus, wenn akute Gefahr im Verzug ist. Die Leitstelle versucht in ihrer Notrufabfrage die Symptome zu ermitteln, die für eine akute Lebensgefahr typischen sind. Ist das der Fall oder wird ein komplexer Rettungseinsatz erwartet, kommen wir zum Einsatz. Dann läuft die Uhr, bis notärztliche Hilfe beim Patienten ist.

Bietet der Einsatz eines Hubschraubers abgesehen von der Geschwindigkeit weitere Vorteile? Etwa bei der Ausrüstung?

Wir haben neueste Technologie an Bord. Das erlaubt eine Notfallbehandlung und intensivmedizinische Betreuung auf höchstem Niveau. Insbesondere in abgelegenen, ländlichen oder alpinen Regionen sind wir die ersten beim Patienten und setzen die entscheidenden Behandlungsschritte. Nur mit dem Hubschrauber können wir in zeitkritischen Fällen Patienten auch über weite Distanzen rechtzeitig in Spezialkliniken bringen.

Jeder Einsatz ist für mich von Wert, egal ob er medizinisch herausfordernd ist oder nicht.

Prof. Dr. Wolfgang Voelckel, Leiter der ÖAMTC Flugrettung

Welche Bedeutung hat die Flugrettung innerhalb des österreichischen Gesundheitssystems?

Die Flugrettung spielt eine zunehmend wichtige Rolle in Österreich. Sie ist trägt entscheidend dazu bei, Versorgungsengpässe zu beheben. Unser Gesundheitssystem ist derzeit unter Druck. Insbesondere dort, wo Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, spezielle medizinische Maßnahmen nur in Zentrumskliniken angeboten werden können oder einfach nur Hausärzte fehlen, gewährleisten wir durch Schnelligkeit und Flexibilität die erforderliche medizinische Versorgung. Unsere Aufgabe liegt auch darin, Patienten mit kritischen Erkrankungen oder Verletzungen schnellstmöglich in hochspezialisierte Behandlungszentren zu bringen, dies in ganz Österreich bei Tag und Nacht. Insofern verstehen wir uns auch als Erweiterung des bestehenden Rettungsdienstes und als zentrales Element von Kliniknetzwerken wie z.B. den Traumanetzwerken.

Wie sieht der typische Ablauf einer Notfallbehandlung aus?

Am Einsatzort ist es zunächst wichtig, sich schnell ein klinisches Bild zu machen. Ein Autofahrer, der gegen einen Baum gefahren ist, oder ein Kind, das abgestürzt ist – jede Situation ist anders. Man muss klären, was genau geschehen ist. In der Erstdiagnostik sind Vitalparameter wie Blutdruck, Puls und Atmung zentral. Wir nützen diese Informationen, ebenso wie Berichte von Zeugen oder Angehörigen, um eine initiale Arbeitsdiagnose zu stellen.

Wie geht es danach weiter?

Dann kommt die Technik zum Einsatz: Herzinfarktdiagnostik mit dem EKG oder auch eine Ultraschalluntersuchung von Herz, Lunge oder den Bauchorganen. Damit erhärten oder verwerfen wir unsere erste Verdachtsdiagnose. Haben wir z.B. im EKG klare Hinweise auf einen Herzinfarkt können wir das EKG vom Einsatzort direkt in das Herzkatheterlabor der Klinik übermitteln und die weitere präklinischen Behandlung mit den Spezialisten abstimmen. Sobald der Patient stabilisiert ist, bereiten wir alles für einen sicheren und komfortablen Transport vor. Dabei berücksichtigen wir auch immer das soziale Umfeld des Patienten – etwa, wenn ein erkranktes Kind begleitet werden muss oder bei einem alpinen Einsatz die Situation einer zurückbleibenden Person ohne Hilfe bedacht werden muss. Danach folgt der Transport zum Hubschrauber und die Überwachung des Patienten während des Fluges, bei dem wir die gleichen Maßnahmen und das Equipment nutzen können wie in einer Intensivstation am Boden.

Wie gehen Sie und Ihr Team mit den emotionalen Anforderungen um, die manche Einsätze mit sich bringen?

Zum einen machen wir unmittelbar nach den Einsätzen ein umfangreiches Debriefing, das allen Teammitgliedern erlaubt, ihre Erfahrungen und Gefühle offen zu teilen. Zum anderen steht uns auch professioneller psychologischer Beistand zur Verfügung. Hinzukommt die Möglichkeit, im Bedarfsfall eine Auszeit zu nehmen, um die eigene psychische Gesundheit zu bewahren. Generell fördern wir ein Umfeld, in dem jede Stimme zählt und in dem die gegenseitige Unterstützung an erster Stelle steht. Dabei hilft es, dass wir alle einer gemeinsamen Vision folgen. Jeder beim ÖAMTC weiß: Wir fliegen gemeinsam raus, leisten professionelle Arbeit und achten aufeinander.

Wenn wir ein Leben retten konnten, bewegt uns das und gibt uns auch in schwierigen Momenten neue Kraft.

Prof. Dr. Wolfgang Voelckel, Leiter der ÖAMTC Flugrettung

Wie viele Mediziner:innen sind aktuell in der Flugrettung tätig?

Wir beschäftigen rund 350 Ärzte im gesamten Netzwerk der ÖAMTC Flugrettung. Einige stehen im Dienstverhältnis mit Kliniken und Krankenhäusern, die uns die Ärzte zur Verfügung stellen, andere sind direkt bei uns angestellt. Unsere Ärzte sind hochqualifiziert und leisten eine Arbeit, die weit über das Übliche hinausgeht. Sie verpflichten sich zu mindestens einem Dienst pro Monat, jedoch wünschen wir uns eine häufigere Tätigkeit, um eine hohe Routine zu gewährleisten. Für uns ist ganz wichtig, dass sie nicht nur ihre fachliche Qualifikation, sondern auch ein starkes Engagement und die Hingabe für den Beruf mitbringen.

Es klingt so, als ob die Tätigkeit in der Flugrettung neben Professionalität auch eine große Portion Leidenschaft erfordert?

Absolut. Es braucht ein tiefes Verständnis für die Bedeutung dieser Arbeit. Unsere Ärzte bringen diese Leidenschaft jeden Tag mit. Das zeigt sich im enormen Einsatz für die Patienten. Es ist diese Hingabe, die den Unterschied in den Notfallmomenten macht.

Ist auch die Vorstellung, Leben zu retten, eine zentrale Triebfeder?

Ganz ehrlich, die Arbeit in der Flugrettung bietet eine einzigartige Mischung aus Abenteuer und der Möglichkeit, besondere Erfahrungen zu sammeln, die man sonst nirgends machen kann. Wenn wir Menschen in Ausnahmesituationen, die ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährden beistehen können, gibt uns das ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit. Wenn wir ein Leben retten konnten, bewegt uns das und gibt uns auch in schwierigen Momenten neue Kraft.

Haben Sie ein Beispiel für so ein Erfolgserlebnis?

Erst unlängst sind wir zu einem Patienten geflogen, der bei einer Radtour einen Herzstillstand erlitten hat. Das war für mich ein bewegender Einsatz. Wir haben am Einsatzort mit allen Rettungskräften perfekt zusammengearbeitet und den Patienten in das in Tirol neu etablierte E-CPR-Programm (extrakorporale Wiederbelebung) aufgenommen. In der Klinik haben Spezialisten bereits mit der Herz-Lungen-Maschine auf den Patienten gewartet. Das hat dem Mann das Leben gerettet. Wären wir auch nur wenige Minuten später gekommen, hätte er keine Chance gehabt. Es sind diese Situationen, trotz ihrer Seltenheit, die uns bestärken und bestätigen, warum wir diesen Weg gewählt haben.

Die Flugrettung spielt eine zunehmend wichtige Rolle in Österreich.

Prof. Dr. Wolfgang Voelckel, Leiter der ÖAMTC Flugrettung

Wie schaffen Sie es, in solchen Situationen fokussiert zu bleiben?

Wir haben eine Art Motto: Cool head, warm heart, active hands. Das trifft es wirklich. Wir müssen uns von unseren Emotionen abgrenzen, nur dann können wir optimal und mit kühlem Kopf handeln. Allerdings möchte ich den Patienten sehr wohl auch emotional unterstützen und ihm vermitteln: Wir sind für dich da, wir kümmern uns, wir haben alles im Griff!

Wie geht es Ihnen im Vergleich dazu mit Einsätzen, die vielleicht nur wenig medizinische Herausforderungen bieten?

Jeder Einsatz ist für mich von Wert, egal ob er medizinisch herausfordernd ist oder nicht. Manchmal werden wir zu Einsätzen gerufen, die weniger medizinisches Eingreifen benötigen. Dann sehe ich mich als Teil der Crew, der für das Wohlbefinden der Patienten während des Transports sorgt. Aber selbst in diesen Augenblicken genieße ich die Arbeit, da jede fliegerische Mission ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringt. Darüber hinaus finde ich auch Freude darin, einfach nur durch ein freundliches Wort oder kleines Gespräch den Patienten Trost zu spenden und ihnen zu helfen, den Stress der Situation abzubauen.

Wissen Sie noch, was Sie vor 30 Jahren dazu bewogen hat, sich auf die Flugrettung zu spezialisieren?

Mein Wunsch, im Rettungsdienst zu arbeiten, entstand sehr früh. Schon als Jugendlicher war ich begeistert vom Gedanken, Menschen in Not zu helfen. Besonders beeindruckt haben mich die Dynamik und die Professionalität der Hubschraubercrews. Diese Begeisterung hat mich nie losgelassen. Ich liebe es, Teil eines effizienten Teams zu sein, das imstande ist, vor Ort kleine Wunder zu vollbringen. Die Flugrettung bietet mir die perfekte Kombination aus medizinischer Herausforderung und dem unvergleichlichen Erlebnis des Fliegens. Sie ist und bleibt meine große Leidenschaft.

Wolfgang Voelckel vor Christophorus.

Zur Person: Assoc. Univ. Prof. Dr. Wolfgang Voelckel, M.Sc., D.E.A.A.

  • Ärztliche Leitung und Abteilungsleitung Anästhesiologie und Intensivmedizin AUVA Unfallkrankenhaus Salzburg 
  • In der ÖAMTC Flugrettung seit 1995, erster Einsatz als Flugrettungsarzt 1988 bei der Schweizerischen Rettungsflugwacht, dort bis 1995 z.T. auch hauptberuflich tätig
  • Seit 2000 ärztlicher Leiter ÖAMTC Flugrettung
  • Lehrauftrag für Prehospital Critical Care (Notfallmedizin) an der University of Stavanger in Norwegen
  • Forschungstätigkeit mit mehr als 160 Publikationen im Bereich Wiederbelebung, Notfallmedizin, Traumamanagement
© Sebastian Weissinger

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