Michael Planer überprüft ein weißes Auto im Lichttunnel
© sebastianweissinger.at
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Januar 2025

Auf Spurensuche nach dem Crash

Nach einem Unfall ist die Aufregung immer groß. Entsprechend mangelhaft fällt oft die Dokumentation aus. Was es zu beachten gilt und wie am Ende die Schuldfrage beantwortet wird – ein Einblick in die Techniken der Gutachter.

Patrick L. versteht die Welt nicht mehr. Als er vor einigen ­Monaten an einem Unfall beteiligt war, dokumentierte er sowohl den Ablauf als auch die Schäden lückenlos – zumindest seiner Auffassung nach. Die Schuldfrage war in seinen Augen eindeutig beantwortet. Der Unfallgegner sah das jedoch anders und zog einen Sachverständigen zurate, dessen Gutachten ihm recht gab. Herrn L. wird eine Teilschuld bescheinigt. Auch seine Versicherung wird zur Kasse gebeten. Deshalb rückt er bei seiner Kfz-Versicherung drei Stufen Richtung ­Malus. Er fühlt sich unfair behandelt. Seine Wahrnehmung des Unfallhergangs entspricht aber möglicherweise nicht den Tatsachen.

Die Situation von Patrick L. ist kein Einzelfall. 2023 ereigneten sich in Österreich 241.409 Straßenverkehrsunfälle. Bei rund 15 % davon kam auch zumindest eine Person zu Schaden. Die restlichen 205.600 Unfälle zogen lediglich Sachschäden nach sich, so wie jener, in den Herr L. verwickelt war.

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Die psychologische Komponente

Marion Seidenberger, ÖAMTC-Verkehrspsychologin, erklärt: "20 % der Leute sind nach einem Unfall völlig durcheinander und agieren fahrig, da sie abrupt aus ihrer Routine gerissen wurden. Emotionen übernehmen das Kommando. ­Ruhig und zielgerichtet zu handeln, ist dann leichter gesagt als getan. Nur zehn bis 15 % der Leute gehen in einer Krisen­situation verlässlich strukturiert vor." Dadurch kann es leicht passieren, dass die Dokumentation unvollständig erfolgt, obwohl die Beteiligten ihrem Empfinden nach gewissenhaft waren. Außerdem sind Erinnerungen in solchen Fällen oft nicht zuverlässig. Das liegt in der Natur des menschlichen Gehirns.

Die Rolle der Sachverständigen

Das bestätigt auch Michael Planer, Leiter des Sachverständigenservices und Fuhrparkmanagements des ÖAMTC. Er wird als Sachverständiger immer wieder von Gerichten und Versicherungsunternehmen zurate gezogen und betont: "Meistens bekomme ich zu Beginn meiner Tätigkeit eher unzureichende Dokumentationen vorgelegt. Denn Sachverständige werden bei einem Gerichtsfall häufig erst im Nachhinein hinzu­gezogen und sehen die Unfallstelle und ­-objekte nicht sofort. Es kann somit das Risiko bestehen, dass etwa die Fahrzeuge schon wieder repariert oder verschrottet sind."

Michael Planer verwendet ein Lackschichtdichten-Messgerät an einem Auto © sebastianweissinger.at
Mit einem Lackschichtdicken-Messgerät kann Sachverständiger Michael Planer Vorschäden aufspüren, die für das freie Auge unsichtbar sind.

Doch wer sind Kfz-Sachverständige überhaupt? Um sich als allgemein beeidete:r und gerichtlich zertifizierte:r Sachverständige:r zu qualifizieren, muss den Zulassungsvoraussetzungen entsprochen und eine kommissionelle Prüfung abgelegt werden. Meistens haben sie eine entsprechende Ausbildung und mehrjährige Erfahrung in den jeweiligen Fachgebieten.

Wann werden Sachverständige eingeschaltet?

Eingeschaltet werden Sachverständige vom Gericht u.a. bei strafrechtlich relevanten Tatbeständen im Rahmen eines ­Unfalls, wie z.B. fahrlässiger Körperverletzung. Bei reinen Sachschäden hingegen werden Sachverständige von Versicherungsunternehmen vorab zurate gezogen, um neben der objektivierten Schadenshöhe auch die Schuldfrage zu erarbeiten.

Mit den Ergebnissen der Sach­verständigen wird meistens versucht, einen außergerichtlichen Vergleich zu erzielen. Falls es doch vor Gericht geht, kann von der Justiz auch bei einem zivilrechtlichen Fall ein:e eigene:r Sachverständige:r bestellt werden. "Vorab werde ich vom Gericht kontaktiert, um zu ­klären, ob Ablehnungsgründe meinerseits bestehen. Falls dem nicht so ist, bekomme ich alle Dokumente und starte mit meiner Tätigkeit", erklärt Michael Planer.

Schlussendlich liegt es am Richter, anhand aller Informationen, Aussagen und Gutachten ein Urteil zu fällen. Eine Liste aller Sachverständigen findet sich auf www.justizonline.gv.at.

Mechaniker begutachtet Schaden am Heck eines Transporters © Shutterstock
In vielen Fällen landen die Autos in der Werkstatt, noch bevor Sachverständige sie zu Gesicht bekommen.

Wie die Unfallrekonstruktion funktioniert

Bei einer Unfallanalyse kann unter anderem die Dokumenta­tion der Endposition aller beteiligten Fahrzeuge herange­zogen werden, um sich anhand der erarbeiteten Grundlagen zurückzuarbeiten. So entsteht ein technisch nachvollziehbares Bild des Unfallablaufs. Dabei kommen auch Simulationsprogramme zum Einsatz, die viele Faktoren einbeziehen. Beispiels­weise: War der Untergrund trocken, nass oder eisig? Gab es Bremsspuren und wenn ja, wie lange waren sie?

Rammt etwa ein Vorrangberechtigter die Seite ­eines benachrangten Unfallgegners, kann die Unfallanalyse helfen, ­eine etwaige Teilschuld wegen zu hoher Geschwindigkeit festzustellen. Auf die Kommastelle genau ist das Ergebnis zwar nicht, da in der Regel leider nicht immer alle Einflussgrößen eindeutig vorliegen oder feststellbar sind. Grobe Überschreitungen können aber verlässlich nachgewiesen werden. Bei der Unfallrekonstruktion kommen bei Bedarf auch technische Hilfsmittel wie Mikroskope oder chemische Analysen für abgenommene Materialien (z.B. Abriebspuren) zum Einsatz. "Aufschlussreich sind Verformungen der Fahrzeuge, Abrieb­spurenverläufe sowie Brems- und Kontaktspuren mit Fahrbahnoberflächen oder anderen Objekten", erläutert Planer.

Michael Planer vermisst einen Schaden am Heck eines Autos 1
Michael Planer kontrolliert mit einem Laptop die Motorhaube eines Autos 2
Michael Planer markiert auf einem Tablet beschädigte Teile eines Autos 3

1 Die Schäden werden von den Sachverständigen genau vermessen. © sebastianweissinger.at

2 Es wird mit diversen technischen Hilfsmitteln gearbeitet. © sebastianweissinger.at

3 Beschädigte Teile können am Tablet vermerkt und die Kosten berechnet werden. © sebastianweissinger.at

Die Genauigkeit der Analyse können Sachverständige mit Bildmaterial von Verkehrs- oder Überwachungskameras und Aufzeichnungen der Ampelschaltungen erhöhen. War ein Lkw am Unfall beteiligt, nützen sie auch Daten aus dessen Fahrtenschreiber. Moderne Pkw verfügen teilweise auch schon über Datenspeicher. Deren Inhalte sind nicht immer auf direktem Wege zu bekommen und Hersteller geben diese ­Daten teils nur nach gerichtlicher Aufforderung heraus.

Bei allem Fokus auf handfeste Daten greifen Sachverständige auch auf Aussagen von Beteiligten und Zeugen zurück. ­Michael Planer empfiehlt deshalb, so bald wie möglich nach einem Unfall ein Protokoll zu erstellen, das die eigene Wahrnehmung dokumentiert: "Je länger der Unfallzeitpunkt zurückliegt, desto weiter weg ist auch die Realität." Eine gute Variante bieten Sprachnotizen, die mit dem Smartphone aufgenommen werden. Auch Zeugenaussagen können so protokolliert werden. Übereinstimmende Darstellungen des Unfallablaufs erleichtern die Arbeit der Sachverständigen immens.

Michael Planer fotografiert Details eines Autos © sebastianweissinger.at
Einwandfreie Fotos sind essentieller Bestandteil der Dokumentation.

Richtiges Verhalten nach einem Unfall

In dieser Ausnahmesituation hat Herr L. daran nicht gedacht. Dass er gemeinsam mit dem Unfallgegner einen europäischen Unfallbericht ausgefüllt hat, ist gut und richtig, aber nur das absolute Minimum. Fotos fallen heutzutage dank Smartphones leicht, hier zählen jedoch die richtigen Fotos. Herr L. hat vor allem die Schäden an den Autos dokumentiert. Essenziell für die Unfallrekonstruktion ist allerdings Bildmaterial, das wie von Michael Planer beschrieben die Gesamtsituation darstellt. Damit ein möglichst originalgetreues Bild entsteht, sollte die Dokumentation also so schnell wie möglich erfolgen, die Fahrzeuge dürfen davor nicht bewegt werden. Bei ­einem Unfall mit Personenschaden ist das sowieso unerlässlich. Doch auch bei einem reinen Sachschaden ist eine vollständige Dokumentation essenziell. Selbst wenn andere Verkehrsteilnehmer:innen die Wartezeit mit einem Hupkonzert quittieren, ist es gerechtfertigt, Fotos zu machen, bevor die Fahrzeuge beiseitegeschafft werden.

Zerstörter Scheinwerfer und Karosserie eines Autos © Shutterstock
Selbst wenn nur das Blech gelitten hat: Fotos sollten gemacht werden, bevor man die Autos bewegt.

Wichtig ist, sich dabei nicht in Gefahr zu bringen. Zuallererst sollte die Warnweste angelegt und je nach Unfallort die Unfallstelle mit dem Pannendreieck abgesichert werden. Damit kein relevantes Detail untergeht, empfiehlt es sich, eine Checkliste mitzuführen (siehe unten). Sie dient zur Orientierung und bringt Ordnung in die Ausnahmesituation.

Verkehrspsychologin Marion Seidenberger betont außerdem eindringlich: "Besonders auf der Autobahn gilt: Sind alle Beteiligten nach einem Unfall in Sicherheit, darf niemand zurück an die Gefahrenstelle gehen!" Wer etwas aus dem Auto holt oder Teile wegräumt, geht ein hohes Risiko ein. Darüber hinaus rät Marion Seidenberger von verbalen Abmachungen an der Unfallstelle ab: "In so einer Stresssituation sind Menschen manipulierbar. Ein Deal, der in diesem Zustand gemacht wird, kann zu Unannehmlichkeiten führen oder gegen einen verwendet werden."

Notruf absetzen, Polizei rufen

Matthias Nagler, Mitarbeiter der ÖAMTC-Rechtsdienste und ehrenamtlicher Sanitäter, präzisiert die Vorgehensweise im Falle eines Personenschadens: "Bei Verdacht auf Verletzungen ist es sinnvoll, sich von der Rettung sofort ins Spital bringen zu lassen, allein zur Beweissicherung." Ein korrekt abgesetzter Notruf beschleunigt den Einsatz, erklärt er: "Im Idealfall ist ­eine Hausnummer, Querstraße oder ein Straßenkilometer anzugeben. Wenn eine Notrufsäule auf der Autobahn in Sichtweite ist, kann die Einsatzzentrale den Notruf ­orten." Außerdem gilt es, geduldig zu bleiben und alle Fragen am Telefon genau zu beantworten. Darauf basierend entscheidet die Einsatzzentrale, welche Maßnahmen nötig sind.

Apropos Notruf. Bei Personenschäden muss zwingend die Polizei kontaktiert werden. Im Zweifel, falls beispielsweise der Unfallgegner nicht kooperativ erscheint, kann sie aber auch bei einem Sachschaden angerufen werden. Wenn der Datenaustausch zwischen den Beteiligten möglich gewesen wäre, muss dann allerdings die Unfallmeldegebühr von 36 Euro bezahlt werden. Dafür nimmt die ­Polizei den Unfall dann auch nochmals zu Protokoll. Im Streitfall kann das einen Unterschied ausmachen

Eine Unfallstelle mit Personenschaden ist wie ein Tatort
zu behandeln.

Matthias Nagler, Mitarbeiter der ÖAMTC-Rechtsdienste und ehrenamtlicher Sanitäter

Die Dashcam-Frage

Dashcams sind hinter dem Rückspiegel montierte ­Kameras, die durch die Windschutzscheibe filmen. Sie können bei der Unfallrekonstruktion helfen. Seit deren Aufkommen ist Michael Planer aber nie Dashcam-Bildmaterial vorgelegt worden. Was auch daran liegen kann, dass ihr Einsatz rechtlich durchaus umstritten war.

Doch die Rechtslage von Dashcams hat sich v erbessert, wie Martin Hoffer, Leiter der Rechtsdienste des ÖAMTC, erklärt: "Dashcams dürfen nun zur anlassbezogenen ­Speicherung Aufnahmen machen. Diese sind aber auf das zeitliche und den Zweck betreffende Minimalmaß zu ­beschränken. Automatische Speicherung nach vor­definierten Impulsen wie Aufprallen oder abrupten Fahrmanövern und händische Speicherung der letzten drei bis fünf Minuten vor dem Unfall sind unbedenklich." Eine Garan­tie, dass die Bilder der Dashcam vor Gericht akzeptiert werden, gibt es aber nicht.

Eine Hand greift zu einer Dashcam an der Windschutzscheibe eines Autos © Shutterstock
Dashcams können bei einem Unfall entscheidende Informationen liefern.

Checkliste: Verhalten nach einem Unfall

In der Aufregung nach einem Unfall kann das korrekte Vorgehen schnell in den Hintergrund geraten. ÖAMTC-Chefjurist Martin Hoffer erklärt, welche Punkte Beteiligte auf keinen Fall vergessen sollten. Die wichtigste Frage ist: Handelt es sich um einen Unfall mit Personenschaden oder um einen reinen Sachschaden? Denn sobald Personen verletzt sind, haben je nach Schwere Notruf und Erste Hilfe natürlich höchste Priorität. Außerdem darf die Unfallstelle nicht verändert werden. Beteiligte sollten an folgende Dinge denken:

  • Fahrzeug anhalten und Warnblinkanlage einschalten
  • Warnweste anziehen
  • Unfallstelle absichern (Pannendreieck)
  • Bei Bedarf Notruf absetzen
  • Eventuell verletzten Personen helfen
  • Sich und andere Beteiligte in Sicherheit bringen und dort bleiben
  • Nach Möglichkeit die Dokumentation des Unfalls beginnen: Genaue Uhrzeit und Datum notieren, den exakten Unfallort erfassen, Fotos machen, im
  • Idealfall Bremsspuren und Abstände vermessen, Unfallbericht ausfüllen, Zeugen ansprechen und deren Kontaktdaten ermitteln
  • Bei Selbstschuld: die eigene Haftpflichtversicherung kontaktieren
  • Bei Bedarf einen Sachverständigen für ein Gutachten beauftragen
  • Die gesamte Dokumentation an alle relevanten Stellen (Versicherungen, Gericht, Sachverständige) weiterleiten
Ein weißes und ein blaues Auto nach einem Frontalzusammenstoß

So unterstützt der ÖAMTC seine Mitglieder nach einem Unfall

Nicht nur bei Pannen, sondern auch bei Unfällen können Mitglieder sich auf den Club verlassen. Von der Unfallstelle bis vor Gericht ist der ÖAMTC für Sie da. Schutzbrief-Inhaber:innen profitieren auch im Ausland nach einem Unfall von zahlreichen ÖAMTC-Leistungen.

  • Notruf 120, Nothilfe-Assistent in der ÖAMTC-App
  • Gratis Abschleppung zur nächsten Werkstätte 
  • Weitertransport von Insassen und Gepäck (z.B. bis zur nächsten Werkstätte oder zum nächsten Hotel), Vermittlung von Übernachtungsmöglichkeiten,
  • Verständigung von Familie oder Firma 
  • Bereitstellung eines Clubmobils als Ersatzwagen 
  • Rechtshilfe bei Unklarheiten und Streitigkeiten
  • Mehr Infos unter: oeamtc.at/thema/panne-unfall

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